Ethologie

Ethologie oder Verhaltensforschung ist ein auf dem Neodarwinismus beruhendes Teilgebiet der Biologie, das sich von der früheren und heute stark vernachlässigten —>Tierpsychologieabgespalten hat und nur die be- obachtbaren oder sonst objektiv feststellbaren Phänomene erforscht. Schwerpunkt der E. ist noch immer das —> Verhalten der Tiere; aber seit die vergleichende E. auch den Menschen in ihre Forschung einbezieht, ist der Schritt zur Humanethologie eigentlich schon getan. Die Wortbildung erfolgte in Anlehnung an das griechische –> Ethos und tauchte erstmals 1762 in den Schriften der Academie Frangaise, also in französischer Version, im Sinne einer Lehre von den Lebensgewohnheiten auf (Meyers Enzyklopädie 1979, Stichwort „Verhaltensforschung”).

I. Unter Tierschutzaspekt ist die E. für jedes Umgehen mit Tieren wichtig, weil sie Auskunft über diejenigen Erfordernisse gibt, die außer den Bedingungen der körperlichen Gesundheit erfüllt sein müssen, damit der Zustand des Wohlbefindensbesteht. –> Leidenkönnen ohne Zuhilfenahme ethologischer Erkenntnisse weder beschrieben noch erklärt werden. Der Tierarzt ist vor allem für die Feststellung und Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit, d. h. das Freisein von körperlichen –> Schmerzen oder —> Schäden zuständig, er kann aus tiermedizinischer Sicht aber nichts über psychische Leiden aussagen, hier ist der Ethologe gefragt.

Nutztiere, die den Bedingungen extrem intensiver Haltungsbedingungen unterworfen sind, zeigen bei der beschleunigten Ausbeutung oft erst gegen Ende ihres Lebens die körperlich manifest gewordenen Folgen ihres vorausgegangenen Leidens. Da das Tier aber nicht nur vor körperlichen Schmerzen oder Schäden, sondern auch vor psychisch bedingtem Leiden geschützt werden soll, kommt dem Urteil der E. besondere Bedeutung zu. Insofern ist der Ethologe in gleicher Weise wie der Tierarzt ein geborener —> Anwalt der Tiere. Und wenn die Bibel den Men- schen (Spr 12, 10) nach der Einheitsübersetzung mahnt: „Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht . . .”, dann ist der moderne Ethologe dazu berufen, es ihm so gut und so eindringlich zu sagen, wie er nur kann; vgl. —> Nutztierhaltung II. Jedenfalls ist die Nutztierethologie mit ihren Erkenntnissen längst in der Lage, sagen zu können, wann Tiere sich wohlbefinden und wann sie leiden, auch wenn dies von den behavio- ristisch orientierten Ethologen angezweifelt wird. Manche Wissenschaftler dieser Richtung neigen auch zum ethischen —> Naturalismus. Zum Behaviorismus s. Klaus Militzer (1986, S. 18) und H. H. Sambraus (1981 c, S. 256).

II. Weil also die E. für die Beurteilung von Leiden so wichtig ist, wirken sich auch die verschiedenen innerwissenschaftlichen Strömungen entsprechend aus. Vor der modernen E. gab es in Europa die —> Tierpsychologie und in den USA den Behaviorismus, zwei Richtungen, die sich hätten ergänzen oder doch gegenseitig korrigieren können. Aber da die Tierpsychologie infolge ihrer ungelösten methodologischen Schwierigkeiten sozusagen verschwunden ist, ohne den Versuch gemacht zu haben, diese Schwierigkeiten zu überwinden oder zu umgehen, steht die E. dem Behaviorismus allein gegenüber: eine Wissenschaft, die das Nicht-Meßbare meidet, gegen eine Wissenschaft, die alles Nicht-Meß- bare einfach ignoriert. Vgl. hierzu auch den Hinweis unter Stichwort —> Nutztierhaltung I/6.

(1) Wer die Zulässigkeit des —> Analogieschlusses von einer Spezies auf die andere (insbesondere unter verwandten Arten) aus erkenntnistheoretischen Gründen auch zur Hypothesenbildung ablehnt, kann nichts über die Befindlichkeit der Tiere sagen; für ihn sind unsere Tierschutzgesetze auch nur das Ergebnis menschlicher —> Interessen am Tier, weil, wie Wolfgang Wickler (1980) sagt, der Mensch die Interessen der Tiere gar nicht kennt. Man kann diese Position haben, aber wer den Analogieschluß in so strikter Weise ablehnt, sollte dies dann auch durchhalten und sich jeder vergleichenden E. enthalten. In der Biomedizin hat es diese Inkonsequenz nie gegeben, weil der —> Tierversuch nur auf der Grundlage des Analogieschlusses wissenschaftlich sinnvoll ist.

(2) Hediger hat sich in einem eigenen Aufsatz mit dieser besonderen erkenntnistheoretischen Schwierigkeit der Ethologen befaßt (1967) und bedauert ausdrücklich die daraus resultierende Einseitigkeit der modernen Verhaltensforschung: „Natürlich ist jeder Verhaltensforscher frei, seine ihm zusagende Arbeitsrichtung zu wählen, nur muß man sich klar sein darüber, daß gegenwärtig gerade jenes interessante Feld vollkommen brach liegt, auf dem die Möglichkeiten des Verstehens und der Verständigung zwischen Mensch und Tier gefördert werden könnten. Das ist um so bedauerlicher, als die Technik uns heute immer feinere Instrumente in die Hand gibt, um z. B. die Lautäußerungen der Tiere – auch im Ultraschallgebiet – nicht nur sehr präzis zu fassen, sondern auch dem Tier zurückzuspielen und seine Reaktionen aufs genaueste aufzuzeichnen” (1967, 5. 242). Vielleicht ereignet sich in der E. doch noch etwas Ähnliches wie früher in der Soziologie, nämlich daß sich in Analogie zur verstehenden Soziologie Max Webers auch eine verstehende E. entwickelt, die – wenn auch über Irrtümer – den Weg zu brauchbaren Forschungsmethoden ebnet. Schon 1. Alverdes hat (1932, S. 50) von einem „Versuch einfühlenden Verstehens des tierischen Verhaltens” gesprochen, und es mehren sich die Anzeichen, daß dieser Versuch bei der nötigen Vorsicht auch nicht aussichtslos ist. So schreibt z. B. Erich v. Holst (1969, S. 291): „Über zweieinhalb Jahrtausende ist es her, daß der weise Kuan Tse sagte: ,Siehe, wie glücklich sind die Fische im Wasser!’ Sein Begleiter aber meinte: , Woher weißt du, daß sie glücklich sind, du bist nicht ein Fisch?’ und Kuan Tse erwiderte: ,Woher weißt du, daß ich es nicht weiß, du bist nicht ich?’ – Diese kleine Unterhaltung erläutert wunderbar die Unerreichbarkeit fremden Seelenlebens; und kein Wissen, keine Technik kann daran etwas ändern. So bleibt also jedem, auch dem Tierforscher, die ,Freiheit’, sich über das Erleben der Tiere seine persönliche Meinung zu bilden – und ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß gerade die erfolgreichsten Tierforscher nicht umhin können, höheren Tieren ein Erleben zuzugestehen und die Behauptung, Tiere seien an Triebe gefesselt, allein der Mensch sei frei, für eine Ausgeburt menschlicher Hybris zu halten.”

(3) In die gleiche Richtung denkt auch Konrad Lorenz, wenn er (198ß) schreibt: „Der infolge des ,technomorphen Denkens’ auftretende Irrglaube, daß nur physikalisch-chemisch Definierbares und quantitativ Verifizierbares reale Existenz habe, führt zu einer bedrohlichen Ent- menschung des Verhaltens moderner Zivilisationsmenschen zu allem Lebendigen . . . Die fadenscheinige Entschuldigung für die moderne ,Intensivhaltung’ lautet stets, man könne nicht mit Sicherheit wissen, was in dem Tier vorgehe, worunter es leide und ob es überhaupt leide. Vom Standpunkt der Logik ist dagegen nichts zu sagen, doch kann dieselbe Behauptung mit gleichem Recht auch bezüglich unserer Mitmenschen aufgestellt werden. Logisch unanfechtbar ist nur die Behauptung der eigenen Existenz, der Satz ,cogito ergo sum’ (ich denke, darum bin ich). Der sogenannte Solipsismus, die Annahme, daß nur man selbst existiere, die ganze Welt aber, einschließlich aller Mitmenschen, nur ein Traum sei, kann logisch nicht widerlegt werden. Dennoch gibt es keinen Menschen, er sei denn völlig verrückt, der überzeugter Solipsist wäre. Die Tatsache, daß unsere Mitmenschen so etwas Ähnliches sind, und Ähnliches empfinden, wie wir selbst, ist evident in genau dem gleichen Sinne, wie mathematische Axiome es sind. Wir sind nicht imstande, nicht an sie zu glauben.”

III. Neben dem Analogiestreit gibt es aber auch noch eine andere die Nutztierhaltung betreffende Kontroverse: die unterschiedliche Beurteilung der Möglichkeit, Tiere mit modernen genetischen Mitteln den Zwecken und Haltungssystemen des Menschen so anzupassen, daß Leiden infolge Unangepaßtheit nicht mehr entstehen können. Durch die Fortschritte in der Gentechnologie ist die Frage der Machbarkeit sicher nicht mehr so strittig wie früher, dafür wird die Frage der ethischen Zulässigkeit solcher Eingriffe immer gewichtiger; vgl. hierzu -> Züchtung.

IV. Ethologen haben sich seit langem und immer wieder zu Fragen der Tierhaltung geäußert, wie etwa in den Sammelbänden von D. W. Fölsch und A. Nabholz (1982), E. von Loeper u. a. (1985) oder H. H. Sambraus und E. Boehncke (1986). Auch von der Ethologischen Ge- sellschaft liegt folgende Stellungnahme vom 14.10.1980 vor:„Die in der Ethologischen Gesellschaft zusammengefaßten Verhaltensforscher aus 8 europäischen Ländern stellen fest, daß sich die öffentliche Diskussion zu Problemen der industriellen Nutztierhaltung entscheidend zugespitzt hat. Sie fühlt sich verpflichtet, zu den auf nationaler und übernationaler Ebene anstehenden Entscheidungen Stellung zu nehmen, denn die Verhaltensforschung hat festgestellt, daß Tiere nur in Grenzen fähig sind, sich an veränderte Umgebungsbedingungen anzupassen. Diese Grenzen werden, wie aus zahlreichen ethologischen Untersuchungen hervorgeht, in bestimmten Haltungssystemen heute bereits überschritten. So kommt es z. B. bei der praxisbezogenen Käfighaltung von Legehennen zu drastischen Verhaltensänderungen in Form von Ausfällen, Hypertrophien und abnormen Verhaltensabläufen. Sie sind Folge des Unvermögens der Tiere, sich den gebotenen Haltungsbedingungen anzupassen. Diese Feststellungen veranlassen die Gesellschaft, gegen die Verwendung solcher Haltungssysteme Einspruch zu erheben. Es bestehen heute Haltungssysteme, die den Möglichkeiten der Tiere zur Anpassung an bestimmte Umgebungsbedingungen entsprechen. Die Gesellschaft ist bereit, sich mit ihrem Fachwissen für die Entwicklung weiterer tiergerechter Hal- tungssysteme einzusetzen” (gez. Prof. Dr. Christiane Buchholz, Prof. Dr. Dierk Franck).

Auch zur Beratung der deutschen Tierschutznovelle hat die Ethologische Gesellschaft einen ausführlichen Beitrag zu allen Fragen der Nutztierhaltung geleistet.

Weitere Literatur: 1. Eibl-Eibesfeldt 1972, E. von Holst 1969/70, K. Horn u. a. 1974, K. Lorenz 1965 und 1982, N. Tipbergen 1966.

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