Lebenserhaltung, Lebenserhaltungsprinzip

Lebenserhaltung, Lebenserhaltungsprinzip spielt im —> ethischen Tierschutz eine wichtige Rolle, wurde aber erst 1972 als „Schutz des Lebens und Wohlbefindens des Tieres” ins damalige Gesetz (§ 1) aufgenommen. Gemäß § 17 wird bestraft, „wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet”. Es geht also nicht nur um —> Wohlbefinden, es geht auch um die Erhaltung des Lebens.

I. Die L. als Tierschutzprinzip ist aus der Tradition des östlichen Denkens als strikte Befolgung des Tötungsverbotes entstanden, das — da man die belebte Natur als Einheit sieht — auch die Mitgeschöpfe einschließt. Dieses Gebot des Nicht-Tötens ist ursprünglich aber nur passiv verstanden worden; es genügte, nicht zu töten, eine aktive Hilfe zum Überleben war nicht verlangt. Das hat sich erst im Laufe einer langen Entwicklung geändert, eigentlich erst durch Gandhi, der aus dem passi- ven Tötungsverbot ein aktives Gebot der-> Barmherzigkeit und der—> Solidarität machte. Er, der die Heiligkeit der Kuh immer wieder in den Mittelpunkt seiner religiösen Lehre stellte, hatte, wie Albert Schweitzer (Werke 2, S. 633) berichtet, in den qualvollen Todeskampf eines Kalbes aktiv eingegriffen und so formal gegen das in bezug auf die Kuh besonders strenge Tötungsverbot verstoßen. Damit hatte er sich den unversöhnlichen Haß seiner Glaubensgenossen zugezogen, dem er dann auch 1948 durch ein Attentat zum Opfer fiel.

Im europäischen Denken ist das Prinzip der L. am konsequentesten von Albert Schweitzerin seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben vertreten worden. Aber auch er hat, ganz wie Gandhi, vom Tötungsverbot immer dann eine ethisch nicht nur erlaubte, sondern gebotene Ausnahme gemacht, wenn sie im Namen der als übergeordnet angesehenen —> Humanität gefordert war; vgl. —> Ehrfurcht vor dem Leben III. Dabei darf nicht übersehen werden, daß sich die für das Tier humanere Tötung für den Menschen oft als die viel schwierigere erweist. Es ist vergleichsweise einfach, ein schwer leidendes Kätzchen in einen mit Steinen beschwerten Schließkorb zu setzen und diesen von einer Brücke ins Wasser fallen zu lassen und dann davonzulaufen; aber das ist nur Mitleid mit der eigenen Schwäche um den Preis eines qualvollen Todes für das Tier.

II. Das Prinzip der L. ist bisher nur im deutschen Tierschutzgesetz von 1972 und in der Novelle von 1986 verankert. In Artikel 1 des schweizerischen Gesetzes ist nur vom „Schutz und Wohlbefinden” die Rede. Von diesem allgemeinen Schutz ist aber doch anzunehmen, daß er auch den Schutz vor ungerechtfertigter Tötung einschließt; jedenfalls findet sich im Gesetz nichts Gegenteiliges.

Tierschutz war zuerst und für lange Zeit nur ein Schutz vor der —> Tierquälerei und beansprucht auch heute noch nicht das gleiche Gewicht wie die Leidvermeidung. Trotzdem gibt es, abgesehen von der Euthanasie, wie sie von Gandhi und Schweitzer gefordert wird, immer noch —> Konflikte, wo nur schweren Herzens zwischen den beiden Prinzipien gewählt werden kann; und mancher Streit unter —> Tierschützern hat hier eine verständliche Ursache. Anlaß ist immer wieder die Euthanasie in Tierheimen, wenn man entscheiden muß, ob man bei einer Überbelegung (1) Neuaufnahmen ablehnen und die Tiere ihrem oft schrecklichen Schicksal überlassen muß, (2) ob man das Leiden der Tiere in überfüllten Räumen über längere Zeiträume in Kauf nehmen darf oder ob man (3) Tiere auch ohne Rücksicht auf die Zuverlässigkeit der Nachbesitzer abgibt und so in vielen Fällen den illegalen —> Tierhandel beliefert, oder ob man man sich (4) entschließt, die nicht an gute Plätze zu vermittelnden Tiere in eigener Verantwortung auf möglichst schonende Weise zu töten. Es ist verständlich und für kurze Zeitabschnitte wohl auch vertretbar, wenn sich die Verantwortlichen zunächst für die zweite Lösung entscheiden, wenn aber das durch Überfüllung verursachte Leiden aller Tiere zu lange andauert, muß der schwere Weg nach Lösung 4 gegangen werden.

III. Die Diskussion über die ethische Zulässigkeit der Tierversuche wird seit einiger Zeit auch auf der Grundlage des —> Gleichheitsgrundsat- zes geführt, und dabei wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die Dauer des Lebens für das Tier ebenso wichtig ist wie für den Menschen, bzw. ob für das Tier nur die Leidvermeidung wichtig ist und nicht auch die L. Im deutschsprachigen Raum ist die Auseinandersetzung über diese Frage von Robert Spaemann (1979) eingeleitet worden, als er in einem von Mitleidenschaft geprägten Plädoyer gegen Tierversuche schrieb: „Wir dürfen Tiere töten, denn Tiere leben im Augenblick. Sie haben keine Biographie. Ihr Leben fügt sich nicht zu einem Sinnganzen, das seine Momente stets von neuem integriert. Es kommt deshalb auf die Länge des tierischen Lebens nicht an.” Otfried Höffe hat diese Argumentation (1982, 5.1007) zustimmend übernommen. Die Gegenposition wird inbesondere von Tom Regan (1983, S. 99-120), Albert Schweitzer (—> Ehrfurcht vor dem Leben) und Peter Singer (1979, S. 72-105) vertreten. Jürgen Dahl hat sich (1984/85, S. 214 f.) so geäußert: „Zum Beispiel könnte man mit Gründen die Ansicht vertreten, daß der Existenz eines Kalbes das Ziel, zur Kuh zu werden, immanent ist, in der Weise, die durchaus vergleichbar ist mit der Sinnerfüllung eines bewußten menschlichen Lebens. Und umgekehrt könnte man sagen, daß es menschliche Existenzen gibt, deren Möglichkeiten, Ziel und Sinn zu finden, noch weit geringer sind als die eines Kalbes. Wäre denn die Tötung von Geisteskranken mit dem Argument zu rechtfertigen, ihr Leben habe keinen Sinn und von ihrem Tode hätten sie keinen Begriff?”

IV. Die Gründe, die vorgebracht werden, um das angst- und schmerzfreie Töten im Gegensatz zur Schmerz- oder Leidenszufügung zu rechtfertigen, werden gemäß Gleichheitsgrundsatz auf relevante Unterschiede zwischen Mensch und Tier (—> Mensch-Tier-Vergleich) gestützt, wie sie z. B. von Spaemann (s. oben) genannt wurden. Aber diese Angaben sind bisher noch nicht diskutiert worden. Tiere leben in der Gegenwart, aber sie haben zumindest ein gewisses Erinnerungsvermö- gen und können, soweit sie Wirbeltiere sind, aus früher gemachter Erfahrung lernen. Was ihnen fehlt, ist die Dimension der Zukunft. Daß Tiere keine Biographie hätten, ist vorläufig nur eine Vermutung, der viele Ethologen (—> Ethologie) widersprechen würden. Und vermutlich ist auch das Sinnganze des Lebens beim Tier wegen des Eingebunden- seins in die jeweilige Art eher zu erreichen als beim Menschen, der die- ses Sinnganze aufgrund seiner Freiheit viel leichter und viel radikaler verfehlen kann. Auch die Formulierung, daß es beim Tier nicht auf die Länge des Lebens ankomme, ist anzuzweifeln, weil das Leben zumindest eine volle Entfaltungschance gehabt haben sollte, d. h. mindestens bis zur einmal erfolgten Fortpflanzung. Für Tiere, die unselbständige Junge haben oder die in lebenslanger Einehe leben, ist der Zeitpunkt des Todes mit Sicherheit nicht belanglos. Trotzdem gibt es zwischen Mensch und Tier auch in bezug auf den Tod einen wesentlichen Unterschied: das Wissen davon. Es wird oft gesagt, daß Tiere im Schlachthaus das ihnen bevorstehende Schicksal erahnen würden. Dabei ist sicher richtig, daß die Tiere in eine bisher nie gekannte Angst und Panik geraten, und daß die Formulierung „angst- und schmerzfreie Tötung” häufig eine bloße Wunschvorstellung ist, aber sie wissen nicht, was der eigene Tod ist oder bedeutet. Sie stellen nur während ihres Lebens manchmal fest, daß ein Artgenosse plötzlich oder nach einer Phase veränderten Verhaltens unbeweglich daliegt. Nur bei Affen und Elefanten hat man bisher beobachtet, daß sie vom Tod eines Rudelgenossen sichtbar betroffen sind und tote Tiere betasten oder anstoßen. Um in der Frage der Zulässigkeit des Tötens weiterzukommen, müßten also zunächst noch Vorfragen geklärt werden: (1) Ist dieses Nichtwissen der Tiere vom Tod bereits ein ausreichender Rechtfertigungsgrund, um Tiere unter bestimmten Voraussetzungen töten zu können, oder welche anderen relevanten Unterschiede gibt es noch? (2) Wie lange muß das Leben, um eine gewisse Erfüllung zu erreichen, grundsätzlich geschützt werden bzw. welche Schonzeiten sind zu beachten? (3) Welche Anforderungen müssen erfüllt sein, damit man von einer angst- und schmerzfreien Tötung sprechen kann?

V. Das L. wird am striktesten in bezug auf den Menschen beachtet, aber es gerät gelegentlich doch in Widerspruch zum —> Wohlbefindens- prinzip, d. h. dem Zustand des Freiseins von —> Schmerzen und —> Leiden, wenn die Erhaltung des Lebens nur unter Schmerzen und Leiden möglich ist. Der —> Konflikt zwischen beiden Prinzipien ist der Hintergrund der seit einigen Jahren in Gang gekommenen Diskussion über die verschiedenen Formen der Sterbehilfe (Euthanasie). Während alle Ethiker, soweit sie sich überhaupt dazu geäußert haben, die aktive Euthanasie beim Tier als einen Akt der —> Barmherzigkeit bejahen (vgl. Ehrfurcht vor dem Leben III), stößt die aktive Sterbehilfe auf Wunsch des Menschen auf entschiedenen Widerstand, wofür es durchaus gute Erklärungen und Gründe gibt. Dabei steht aber noch mehr zur Diskussion, etwa das christliche Annehmen des Leidens, ein Argument, das ja auch gegen die Tierversuche sprechen würde, dort aber nur ausnahmsweise vorgebracht wird.

VI. Eine weitere nicht einfach nur zu verdrängende Frage ist die, wie sich die durch die Medizin bewirkte Lebensverlängerung auf das Ziel der Vermeidung oder Linderung des Leidens auswirkt. Da der Mensch im Verlaufe seines längeren Lebens auch immer mehr Krankheiten ausgesetzt ist, könnte die Summe des menschlichen Leidens möglicherweise sogar eher zu- als abnehmen. Sicher ist jeder daran interessiert, möglichst lange ein gesundes und sinnvolles Leben zu führen, aber niemand will das oft unerträglich verlängerte Siechtum in Kauf nehmen und als „Pflegefall” unter unvermeidbar entwürdigenden Umständen abgeschoben werden. Auch Krankheiten, die bei geringerer Lebenserwartung kaum eine Rolle gespielt haben, wie etwa der Altersschwachsinn, nehmen an Häufigkeit in erschreckendem Umfang zu. Nach einem Bericht von Anneliese Furtmayr-Schuh (Die Zeit Nr. 24, 1987) leidet etwa jeder zehnte Mensch über 65 und jeder dritte über 85 Jahren an seniler Demenz. Die Fortschritte der Medizin nur an der verlängerten Lebenserwartung zu messen und für diesen Fortschritt auch noch Tierversuche einzusetzen, ist jedenfalls immer fragwürdig. Für weitere Fragen der Medizinkritik s. Rainer Föhl (1979) und Otfried Hefe (1982, S. 1002).

VII. Das ist jedoch nicht die einzige dieser unerwünschten Folgen der Medizin. Unter dem Stichwort —> Verantwortung I ist bereits die von der Medizin mitverursachte Bevölkerungsexplosion erwähnt worden.

Die biblische Weisung war die: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde . . .” (1. Mose I, 28); von einer Überfüllung durch den Menschen und einer Verdrängung oder Ausrottung der Mitgeschöpfe war nicht die Rede; vgl. hierzu insbesondere Norbert Lohfink (1974, 1977) sowie die von der Evang. Kirche in Deutschland (1984) veröffentlichte Studie „Bevölkerungswachstum als Herausforderung an die Kirche”.

Zur Beschreibung der Zustände, mit denen wir bei weiterem Bevölkerungswachstum rechnen müssen, brauchen wir zumindest für die erste Phase kein simuliertes Szenario: Das Wachstum der Slums und der da- mit verbundenen Kriminalität ist schon unter uns, und der Flüchtlingsdruck von Süden nach Norden, wie er an verschiedenen Stellen der Erde bereits in Gang gekommen ist, wird zunehmen, es sei denn, es erfüllen sich andere menschheitsdezimierende Schreckvisionen.

Im Bereich des —> Umweltschutzes akzeptieren wir die Pflicht, bei unserem Umgehen mit der Natur auch an kommende Generationen zu denken. Gehört dazu nicht auch die Pflicht, der Überbevölkerung zu steuern, und zwar ohne das unvertretbare Mittel der Abtreibung, das mit der Ethik der—> Ehrfurcht vor dem Leben unvereinbar ist? Daß kirchlicher- seits immer noch Bedenken gegen bestimmte Formen der Empfängnis- verhütung vorgebracht werden, ist unbegreiflich; wo bleibt hier die Duldung des „kleineren Übels”?

Weitere Literatur: A. Koegel 1957, M. Lockwood 1979, P. Singer 1979.

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