Pflichtenkonzept

Gleichgültig, wie umstritten die —> Rechteposition und wie verschieden die Begründungen für das P. auch sein mögen: Daß der Mensch solche Pflichten hat, wird kaum mehr bestritten. Ob es sich dabei aber um Pflichten handelt, die wir (1) unmittelbar den Tieren schulden oder (2) uns selbst in bezug auf die Tiere (—> Kantische Position) oder (3) Gott gegenüber in bezug auf die uns anvertrauten Mitgeschöpfe (—> Biblische Tierschutzethik), ist hier weniger wesentlich. Da der Tierschutz aber eine globale Aufgabe ist, sollte es möglich sein, sich auf einen Katalog von Pflichten zu einigen, die jedermann einleuchten, jedermann zuzumuten sind. Daß eine solche Einigung nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, also einem Minimalkonsens möglich ist, muß hingenommen werden, darf aber keinesfalls dazu führen, daß die in ihrer —> Humanität weiter fortgeschrittenen Länder wieder auf solche Mindestanforderungen zurückfallen oder unbeweglich auf ihnen verharren. Wirtschaftliche Nachteile gegenüber ungehemmt ausbeuteri- schen Ländern müssen aber ausgeglichen werden. Die —> Unteilbarkeit der Ethik und der —> Gerechtigkeit verlangen immer, das Wohl aller zu bedenken, der Menschen und der Tiere.

I. Das P. ist eine Frucht der Aufklärung und des Pietismus. Die Aufklärung weckte das Interesse an der Natur, der —> Pietismus hat es dann theologisch überhöht. Ein wichtiger Beleg dafür ist das Biberacher Gesangbuch von 1802, weil es für den Stand des damaligen Bewußtseins exemplarisch ist und zeigt, wie sich die eingetretene Wende bis in die Volksfrömmigkeit durchgesetzt hat. Es bringt unter dem Titel „Pflichtgemäßes Betragen gegen Thiere, Pflanzen und Bäume” eine eigene Abteilung mit vier Liedern, die bereits wichtige Elemente der –> biblischen Tierschutzethik enthalten:

(1.) die Welt ist nicht nur für den Menschen, sondern für alle Geschöpfe da; (2) alle Geschöpfe haben ein eigenes von Gott stammendes Lebensrecht, ihrer Art entsprechende Lebensräume; und jede, auch die unscheinbarste Art, ist in sich vollkommen und hat ihre Funktion im Ganzen der Schöpfung; (3) Gott liebt und erhält alle seine Geschöpfe, sie verkünden auf je eigene Weise sein Lob, seine Schöpferkraft und –> Barmherzigkeit; (4) Mensch und Tier sind fühlende Wesen, mit Sinnen begabt, fähig zu genießen und zu leiden; (5) wer Gott ehrt und liebt, der ehrt und liebt auch seine Geschöpfe; (6) der gottebenbildliche und ver- nunftbegabte Mensch hat von Gott einen Herrschaftsauftrag und nimmt in der Schöpfung eine —> Sonderstellung ein, die ihm nicht nur Grausamkeit und frevelhaften Umgang verbietet, sondern ihn auch dazu verpflichtet, sich in der Ausübung seiner Herrschaft an Gottes Liebe zu allen Geschöpfen zu orientieren; (7) der Christ soll sich Gottes Barmherzigkeit zum Vorbild nehmen und für die Leidenden dieser Welt eintreten, auch für die Tiere. Aus der Pietismustradition herkommend, ist das P. dann auch in die Ethik der —>Humanität eingeflossen, wie die schon im 19. Jahrhundert vorhandene Literatur belegt, so etwa Christoph Friedrich von Ammon 1829, Ignaz Bregenzer 1894, H. W. von Ehrenstein 1840, 1. H. Eichholz 1805 und J. J . Zagler 1846.

II. Auch der dänische Bischof Hans Lassen Martensen hat in seiner Christlichen Ethik (1866, 2. Teil, S. 333) ein solches P. skizziert, das die Beziehung zur Humanität deutlich macht: „Wenn von Pflichten gegen die Natur die Rede ist, so müssen dieselben, ihrem eigentlichen, tiefe- ren Sinne nach, als Pflichten gegen den Schöpferwillen aufgefaßt werden, welcher den Menschen zum Herrn der Natur bestimmt, und hiermit verpflichtet hat, die Natur in Übereinstimmung mit dem Schöpfergedanken zu behandeln, theils als Mittel für die sittlichen Aufgaben des Menschen, theils als relativen Selbstzweck. Daher ‘ist alle Willkürlichkeit in der Art, die Natur zu behandeln, alles unnütze Verderben, alles muthwillige Zerstören vom Übel und verwerflich. Mit einem Worte können wir sagen: der Mensch muß die Natur mit Humanität behandeln, das heißt, in der Weise, welche mit der eigenen Würde des Menschen, d. h. mit der Würde der menschlichen Natur übereinstimmt.” Vgl. hierzu —>.Menschenwürde. Daß dies dann auch in der Forderung nach —> Gerechtigkeit mündet, läßt sich ebenfalls erkennen (S. 334): „Als Gottes Ebenbild auf Erden soll der Mensch nicht allein die Gerechtigkeit Gottes abspiegeln, welche im ganzen Umfange der Schöpfung Gesetz und Ordnung, Maß und Grenze aufrecht erhält, sondern auch die Güte Gottes, welcher ‚Allen gütig ist und sich aller seiner Werke erbarmet’ (Ps 145, 9). Denn Gott hat kein Gefallen an dem Tode und Untergange Dessen, was da lebt . . .”

III. Zusammenfassungen der damaligen Anschauungen finden sich bei Ignaz Bregenzer (1894, S. 316-323) und Karl Köstlin, der (1887, Bd. 1, S. 68f.) zunächst „Die Pflichten in Betreff anderer Wesen” behandelt und am Ende seines Pflichtenkataloges ausdrücklich schreibt: „Jedoch nicht blos der Mensch, sondern auch die niedere Creatur ist, soweit nicht ihrer Verbreitung mit Gewalt gewisse Schranken gezogen werden müssen, mit Liebe zu behandeln, nicht, wie Kant meint, aus Pflicht gegen sich selbst (um sich nicht zu verhärten), sondern weil es im sitt- lichen Gebiet keine Lieblosigkeit irgendwohin gibt.”

Weitere Literatur: Leonard Nelson 1970 Bd. 5, Kapitel 7 “Pflichten gegen Tiere”, Tom Regan 1983, S. 150-231.

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