Rechtekonzept

Wenn es um die Grundlegung der -> Tierschutzethik geht, ist oft auch vom „Recht der Tiere” und einem entsprechenden R. die Rede. Es ist im Gegensatz zum -> Pflichtenkonzept noch immer heftig umstritten, und zwar auch in seiner praktischen Bedeutung für den Tierschutz. Die Diskussion darüber ist insbesondere in den USA schon immer lebhafter geführt worden als auf unserem Kontinent. Charles R. Magel hat 1981 eine 602 Seiten starke Bibliographie über Tierrechte und damit zusammenhängende Fragen veröffentlicht, die zeigt, wie intensiv auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung geführt wird.

Das R. ist zuerst von Jeremy Bentham betont worden, der in Analogie zur Sklavenbefreiung eine —> Befreiung der Tiere verlangt hatte. Und wenn hinter der Sklavenbefreiung die Vorstellung von Menschenrechten stand, dann war es nur folgerichtig, auch für die Tiere solche Rechte anzunehmen. Jedenfalls spielt dieses Konzept in der angloamerikanischen Tierschutzliteratur eine bedeutende Rolle; vgl. hierzu insbesondere Joel Feinberg (1980), Michael Fox (1980, S. 152-172), Andrew Linzey (1976), Tom Regan (1983), Tom Regan und Peter Singer (1976), B. E. Rollin (1981), Henry Salt (1980), Peter Singer (1982), Jean-Claude Wolf (1985). Die Gegenposition, daß Tiere keinerlei Rechte haben, wird insbesondere von R.G. Frey (1980) und Michael Allen Fox (1986) vertreten.

Der Gedanke, daß Tiere Rechte hätten, daß es also neben den Men- schenrechten auch Rechte der Tiere oder eine die Tiere umfassende Rechtsordnung gäbe, kann bis Ulpian (170-228) zurückverfolgt werden und hat auch Eingang in Justinians Corpus iuris civilis gefunden: „Das Naturrecht ist jenes Recht, welches die Natur allen Lebewesen gegeben hat und welches nicht nur dem Menschen eigen ist”; zitiert nach Klaus D. Wiegand (1979, S. 27). Dieser Satz hat aber das Rechtsdenken nicht beeinflußt, sondern das römische Recht und seine Denktradition hat bis in die Gegenwart verhindert, daß Tieren irgendwelche Rechte eingeräumt wurden. Trotzdem geht der Streit darüber, ob Tiere Rechte haben oder auch nur Rechte haben können, weiter. Vor allem in der Rechtswissenschaft gibt es kaum überwindbare Widerstände. Da es in der europäischen Tradition im Hinblick auf die Tiere aber ein weitgehend anerkanntes –> Pflichtenkonzept gibt, darf man, wie Hans Lenk (1983) es tut, jedenfalls moralische Rechte oder „Quasi-Rechte” im Sinne eines Anspruches der Tiere auf —> Gerechtigkeit anerkennen.

Inzwischen ist 1978 eine „Universelle Erklärung der Tierrechte” entworfen und veröffentlicht worden, abgedruckt im „Forum Europarat”, Sonderbeilage 3/1982, S. XX. Die Deklaration hat folgenden Wortlaut:

Präambel
Im Bewußtsein, daß jedes Tier Rechte besitzt;
Im Bewußtsein, daß Unkenntnis und Mißachtung dieser Rechte den Menschen dazu gebracht haben und bringen, Verbrechen an der Natur und den Tieren zu begehen;
Im Bewußtsein, daß die Anerkennung des Lebensrechts anderer Tierarten durch die menschliche Spezies die Grundlage der Koexistenz aller Arten auf der Erde ist;
Im Bewußtsein, daß Artenmord vom Menschen begangen worden ist und immer noch begangen wird;
Im Bewußtsein, daß die Achtung der Tiere durch den Menschen mit der Achtung der Menschen untereinander zusammenhängt;
Im Bewußtsein, daß die Erziehung von Kindheit an darauf gerichtet sein sollte, die Tiere zu beobachten, zu verstehen, zu achten und zu lieben, wird folgendes erklärt:

Artikel 1
Alle Tiere sind vor dem Leben gleich und haben gleiche Rechte darauf.

Artikel 2
1. Jedes Tier hat das Recht auf Achtung.
2. Der Mensch, ebenfalls eine Tierart, kann die anderen Tiere nicht ausrotten oder durch Verletzung dieses Rechts sie ausbeuten; er hat die Pflicht, sein Wissen in den Dienst der Tiere zu stellen.
3. Jedes Tier hat das Recht auf Beachtung, Fürsorge und Schutz durch den Menschen.

Artikel 3
1. Kein Tier darf schlecht oder grausam behandelt werden.
2. Wenn ein Tier getötet werden muß, soll das ohne Umschweife, schmerzlos und ohne Angstgefühle hervorzurufen, geschehen.

Artikel 4
1. Jedes Tier einer wildlebenden Art hat das Recht, in seiner eigenen natürlichen Umgebung zu leben, sei es auf der Erde, in der Luft oderim Wasser, sowie es das Recht zur Fortpflanzung hat.
2. Jede Freiheitsberaubung, selbst zu Unterrichtszwecken, widerspricht diesem Recht.

Artikel 5
1. Jedes Tier einer Art, die traditionell in der Umgebung des Menschen lebt, hat das Recht, in dem Rhythmus, unter den Bedingungen und in der Freiheit, die seiner Art entspricht, aufzuwachsen.
2. Jede Veränderung dieses Rhythmus’ und dieser Bedingungen, die ihm zu wirtschaftlichen Zwecken vom Menschen zugemutet wird, widerspricht diesem Recht.

Artikel 6
1. Jedes Tier, das sich der Mensch als Begleiter wählt, hat das Recht auf eine Lebenszeit, die seiner natürlichen Lebensdauer entspricht.
2. Das Aussetzen eines solchen Tieres ist eine grausame und entwürdigende Handlung.

Artikel 7
Jedes Arbeitstier hat das Recht auf eine ihm angemessene Arbeitszeit und Belastung sowie auf eine ihm entsprechende Ernährung und Ruhe- zeit.

Artikel 8
1. Tierversuche, die physische und psychische Leiden mit sich bringen, sind mit den Rechten der Tiere unvereinbar, ob es sich um medizinische, wissenschaftliche, wirtschaftliche oder sonstige Versuche handelt.
2. Ersatztechniken müssen entwickelt und angewandt werden.

Artikel 9
1. Wenn das Tier zur Schlachtung aufgezogen wird, muß es ernährt, untergebracht, befördert und getötet werden, ohne daß Angst und Schmerzen entstehen.

Artikel 10
1. Kein Tier darf zum Vergnügen des Menschen benutzt werden.
2. Schaustellungen von Tieren und Darbietungen mit Tieren sind unvereinbar mit der Würde des Tieres.

Artikel 11
1. Jede Handlung, die unnötigerweise zum Tode eines Tieres führt, ist ein Verbrechen gegen das Leben.

Artikel 12
1. Jede Handlung, die zur Tötung einer großen Zahl wildlebender Tiere führt, ist ein Artenmord und Verbrechen.
2. Verschmutzung und Zerstörung der natürlichen Umwelt führt zum Artenmord.

Artikel 13
1. Ein totes Tier sollte mit Achtung behandelt werden.
2. Szenen, in denen Tiere Opfer von Gewalttätigkeit werden, müssen im Film und Fernsehen untersagt werden, außer wenn die Absicht verfolgt wird, eine Verletzung der Tierrechte darzustellen.

Artikel 14
1. Die Organisationen für Schutz und Erhaltung der Tiere müssen auf Regierungsebene vertreten sein.
2. Die Tierrechte müssen gesetzlich ebenso verteidigt werden wie die Menschenrechte.

Französische Liga für Tierrechte, B.P. 67, 94202 Ivry — sur Seine

Weitere Literatur: E. von Loeper 1984, B. Sitter 1986.

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