Schmerz, Schmerzen

Das Freisein von körperlichem S. ist ein wichtiges und – geschichtlich betrachtet – das zuerst erkannte Erfordernis des —> Wohlbefindens des Tieres, während das seelische –> Leiden erst viel später erkannt wurde.

I. Die S.fähigkeit der Wirbeltiere, insbesondere der Säugetiere ist unbestritten. Der Gesetzgeber nimmt jedoch Unterschiede der S.fähigkeit zwischen warmblütigen Tieren (Säugetiere, Vögel) und wechselwarmen Tieren an und macht in § 9 Abs. 2 Nr. 1 einen entsprechenden Unterschied, indem er vorschreibt: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.” Die Vorstellung, daß wechselwarme Tiere nicht oder weniger schmerzempfindlich seien, ist zwar schon alt, aber in neuerer Zeit nicht intensiv erforscht. Seit der Untersuchung von J. Alumets u. a. (1979) an Regenwürmern ist es aber sehr wohl möglich, daß S.empfindung auch bei weniger entwickelten Tieren vorhanden ist. Auch die andere Vorstellung, bestimmte Eingriffe und Amputationen dürften gemäß § 5 des deutschen Tierschutzgesetzes und Art. 65 der schweizerischen Tierschutzverordnung bei ganz jungen Tieren betäubungslos erfolgen, beruhen mehr auf unreflektierter Tradition „weil es schon immer so war”, als auf wissenschaftlicher Erkenntnis. So ist völlig unverständlich, daß der Gesetzgeber auch in der Novelle von 1986 die meisten der entsprechenden Eingriffe weiterhin ohne Betäubung zuläßt. Hans-Otto Schmidtke hatte schon (1951, S. 41) geschrieben, „daß bei diesen Klauentieren, die Nestflüchter sind, das Nervensystem zur Zeit der Geburt voll ausgebildet und leistungsfähig ist, daß auch das psychische Verhalten und die Reaktionen auf schmerzhafte Reize keinen Anlaß geben, diesen Jungtieren eine geringere S.empfindlichkeit zuzusprechen als erwachsenen Tieren der gleichen Art. Auch bei der Kastration zeigen Ferkel und Kälber wie junge Schaf- und Ziegenböcke heftigste Reaktionen, sie schreien, schlagen, strampeln und versuchen mit aller Kraft zu entfliehen. Es ist schwer, sich vorzustellen, was für S.äußerungen so ein Jungtier noch zeigen sollte, damit man ihm seine S. empfindung glaubt … Diese Bestimmung des Tierschutzgesetzes… ist — wenn die S.empfmdlichkeit Maß sein soll — nicht haltbar.” Nach Schmidtke waren es für die von ihm referierte Zeit eindeutig wirtschaftliche Gründe, die dem Tierschutz hier im Wege standen. Es gab und gibt offenbar noch immer den Beruf des „Laienkastrierers”, der dieses mit der — > geschöpflichen Würde des Tieres unvereinbare Geschäft für einen wesentlich geringeren Lohn betreibt als ein Tierarzt, insbesondere wenn eine Betäubung vorgenommen wird.

II. Karl von Frisch (zitiert nach H. Hediger 1976) hält den Schmerz für einen besonderen und wichtigen Sinn: „Würde es nicht so schändlich weh tun, wenn man in die Flamme greift oder wenn man sich eine Wunde reißt, dann hätten wir uns alle schon als Kinder durch Unachtsamkeit die schwersten Verletzungen zugezogen. Wir brauchen ihn nötig, den unbarmherzigen, den lebensrettenden Warner, den Schmerz.” Entsprechend äußert sich auch H .-0 . Schmidtke (1951, S. 22 f.). Und wenn das so ist, dann sollte man mit der Aberkennung der S.fähigkeit sehr vorsichtig sein. Nur bei Lebewesen, die überhaupt keinen Versuch machen, sich einer lebensbedrohenden Situation zu entziehen, muß man auf fehlendes S.empfinden schließen; das gilt für alle Pflanzen (die von Peter Tompkins und Christoper Bird1974 behauptete S.fähigkeit der Pflanzen hat sich ja nicht bestätigt) und wahrscheinlich auch für Tierarten unterhalb einer allerdings nicht leicht bestimmbaren Schwelle.

III. Versuche, die Intensität des S. zu beurteilen und vergleichen zu können oder andere Beurteilungskriterien zu finden, werden immer wieder unternommen, haben aber noch kein befriedigendes Ergebnis gebracht. Bei Tierversuchen ist es immerhin möglich, zwischen leichten, mittleren und schweren Eingriffen zu unterscheiden; vgl. hierzu H. Schnappauf (1984) und „Tiere in der Arzneimittelforschung” (1986, S.19).

IV. Die Erhaltung des Wohlbefindens durch Vermeidung von S. und Leiden als Tierschutzprinzip und die Frage, ob Mensch und Tier den S. in ähnlicher Weise oder ganz unterschiedlich erleben, ist unter dem Stichwort –> Wohlbefindensprinzip II—IV behandelt.

Weitere Literatur: A. Bamberger 1983, B. Bilz 1971, A. F. Goetsche11986, Sachregister, C.A., Keele und R. Smith 1962, A. Lorz 1979 und 1986, Sachregister, K. M. Michel 1986, D. H. Murphy 1982, D. Pratt 1983, S. 11-30, H. Röcken 1980, W. Westhaus 1955.

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