Sittengesetz

Inbegriff der Sittlichkeit, auch moralisches oder sittliches Gesetz, ist die sittliche Grundnorm (vgl. Rudolf Ginters 1982, S. 173 f.), aus der sich alle anderen Sollensvorschriften ergeben. Grundnorm in diesem Sinne ist etwa die Forderung, „das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen” (Georgi Schischkoff, 1982, S. 640), die —> goldene Regel oder „das oberste Gebot” (Mt 22, 36-40): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.” Demnach ist das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe die Grundnorm der christlichen Ethik, in der auch die mitgeschöpfliche Liebe verankert ist: Franziskus liebte die Tiere als Gottes Geschöpfe. Dieser Hinweis auf das Doppelgebot ist insofern wichtig, als die christliche Lehre auch für die verfassungsrechtliche Interpretation des S. in Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik von Bedeutung ist („Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt”); vgl. Christian Starck (1974, S. 260 und 274).

Was den Inhalt des S. betrifft, ist die verfassungsrechtliche Interpretation ziemlich ratlos, weil das Bundesverfassungsgericht nur ausnahms- weise darauf Bezug genommen hat, und sicher auch deshalb, weil sich die neuere Ethik über einen so langen Zeitraum mehr mit Rand- als mit Zentralfragen befaßt hat. Man muß also auf Kant und Thomas von Aquin zurückgreifen, um Anhaltspunkte zu finden, die nach Starck aber keine verbindlichen Folgerungen zulassen. Die Ausgangsbasis muß breiter angelegt werden, d. h. man muß nach Starck (S. 273) schon auf die ganze Fülle der ethischen Tradition und die Gesetzgebung der letzten 200 Jahre zurückgreifen, um auf den Inhalt des S. verweisen zu können. Dabei darf Bleibendes und Erprobtes gegen offensichtlich Überholtes abgesetzt werden.

Das S. ist insofern ein offenes Konzept, „eine elastische ethische Generalklausel” (Starck, S. 262), die neben dem starren Ordnungsgerüst der Verfassung bewußt Raum läßt für neue Entwicklungen, wie etwa das seit einem Jahrzehnt wesentlich empfindlicher gewordene —> Wertgefühl in Bezug auf die Natur und die Mitgeschöpfe. Der Gesetzgeber hat hier der —> öffentlichen Meinung und den für die Entwicklung der Grundwerte maßgeblichen Instanzen der ethischen Reflexion eine Mitwirkungschance und damit zugleich eine Aufgabe gestellt. Das S. ist demnach auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit immer so bedeutsam, wie der theologische und philosophische Impuls, der von der ethischen Zeitkritik ausgeht. Mit anderen Worten, es ist Sache der –> Ethik, das Gewicht des S. so zu vermehren, daß es im Rechtsbewußtsein der Zeit zur Geltung kommt.

Das Grundgesetz wurde seinerzeit so abgefaßt, als ob es keine —> Verantwortunggegenüber der Natur und den Mitgeschöpfen geben könne. Es ist das Produkt des damals noch unangefochtenen —>anthropozentrischen Humanismus und insofern den in manchen Bereichen schon existentiellen Problemen des natürlichen Lebens von Mensch und Tier als Orientierung nicht mehr gewachsen. Um so wichtiger sind für den —> Tier-, —> Natur- und —> Umweltschutz die wenigen für die Zeitentwicklung offenen Begriffe wie —> Menschenwürde oder eben das S.

Literatur: Im Text erwähnt.

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