Tierärztliche Ethik

Tierärztliche Ethik leidet unter einem vorläufig unlösbaren Dilemma, das im Codex experiendi der Deutschen Tierärzteschaft (1983, Buchstabe B/3) so beschrieben wird: „In dem Spannungsbogen zwischen ethisch motivierter Schonung und existentiell notwendiger Nutzung von Tieren befindet sich der Tierarzt in einer ambivalenten Position. Einerseits ist er dazu berufen, Anwalt und Beschützer der Tiere zu sein, andererseits wird von ihm erwartet, daß er seine Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzt, um eine bestmögliche Nutzung im Interesse des Menschen zu erreichen. Eine solche Position läßt sich nur durchhalten, wenn der Dienst am Menschen als vorrangig angesehen wird. Er muß dann aber nicht nur darin bestehen, die Ernährung des Menschen zu sichern, seine Gesundheit zu schützen und seine Kenntnisse zu mehren, sondern auch darin, das Gefühl der Verbundenheit seiner Existenz mit jener der Tiere zu stärken und seinen Sinn für Verantwortlichkeit zu schärfen, wo er Tiere einem Nutzungsinteresse zu unterwerfen und zu opfern bereit ist. Aufgabe des Tierarztes ist es dann, die Schädigung von Leben nur zuzulassen, wenn das Kriterium der Unvermeidbarkeit im Sinne der Wahrung allgemein anerkannter höherer Rechtsgüter und Wertordnungen erfüllt ist.” Auch alle anderen Versuche, veterinärethische Leitlinien zu formulieren, scheitern an dem Versuch, eigentlich Unvereinbares nebeneinander gelten zu lassen. Wer es trotzdem versucht, muß dann zu ethisch so fragwürdigen Voraus-Urteilen greifen, wie die grundsätzliche Priorität menschlicher —> Interessen. Vgl. hierzu auch Gretchen Lockwood (1986), B. E. Rollin (1981) und H. Rozemond (1986). Gelegentlich wird versucht, solchen Formulierungen eine eigendynamische Intention mitzugeben, d. h. eine weiterführende Leitlinie zu finden, so etwa bei Werner Leid! (1985): „Durch alle Epochen und in allen Kulturen ist das Bemühen bemerkbar, das Tier nicht nur zu nutzen, sondern dem Tier auch gerecht zu werden” (—> Gerechtigkeit). Trotzdem blieb der Tierarzt in einer ambivalenten Position. —> Anwalt der Tiere ist er meist nur in zweiter Linie, auch als Amtstierarzt.

Ansätze, das beschriebene Dilemma aufzulösen oder wenigstens einzugrenzen, sind nur ausnahmsweise erkennbar, und Michael W. Fox hat sicher recht, wenn er (1984) einleitend schreibt, daß es eine Philosophie der Tiermedizin bis heute nicht gibt. Dafür nur die veterinärmedizinische Ausbildung verantwortlich zu machen, die ihr Wissen als wertneutral darstellt, wird der tatsächlichen Situation insofern nicht gerecht, als man veterinärethische Überlegungen oder gar Konzepte zuerst haben muß, ehe man sie an die Studierenden weitergeben kann. Philosophie und Theologie haben in der Vergangenheit jedenfalls nicht viel getan, um dem an ethischen Fragen seines Berufes interessierten Tiermediziner irgendwelche Hilfestellung zu leisten, ausgenommen Albert Schweitzers Ethik der —> Ehrfurcht vor dem Leben. Die meisten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur—> Tierschutzethiksind in den letzten 10 Jahren entstanden. Erst jetzt lohnt es sich, das Gespräch mit Vertretern anderer Disziplinen zu suchen, wie H. Rozemond (1986, S. 263) empfiehlt.

Auch M. W. Fox stellt (1984) zunächst das Fehlen ethischer Prinzipien zur Auflösung des —> Konflikteszwischen der Sorge für das Tier und den Interessen des Klienten fest, der den Behandlungsauftrag gibt und bezahlt. Haben wir nur einen Dienstleistungsberuf, so fragt er, oder haben wir als Tierärzte eine ethische Verpflichtung, in der Gesellschaft für mehr Achtung vor den Mitgeschöpfen einzutreten? Michael Fox läßt die Frage zwar offen, aber es ist für ihn nur eine rhetorische Frage, die er schon oft und engagiert beantwortet hat. Seine Ethik will —> Gerechtigkeit auch für das Tier: Alle Tiere sollen nach Maßgabe ihrer Sensitivität in Bezug auf —> Schmerzen oder —> Leiden mit gleicher –> Humanität behandelt werden. Dem Tierarzt hilft dabei die —> Empathie, die neben dem beruflichen Wissen und Können seine Heilkunst ausmacht, weil sie ihn dazu befähigt, die körperliche und seelische Ganzheit des Tieres zu berücksichtigen. Fox weiß jedoch, daß er Forderungen erhebt, die bisher nur von wenigen seiner Kollegen so akzeptiert werden und schon gar nicht von der Gesellschaft, deren —> Einstellung zum Tier sich erst ändern muß, wenn der Tierarzt aus seinem Dilemma herausfinden will.

Die Wirklichkeit ist von diesem Zustand noch weit entfernt. Um so selbstverständlicher ist es die Pflicht des Tierarztes, auf eine Veränderung des —> Wertbewußtseins seiner Klienten und der —> öffentlichen Meinung hinzuwirken, denn niemand ist von seinem Beruf her so zum Anwalt der Tiere „berufen” wie er. In keiner berufsethischen Verpflichtungsformel dürfte diese erste und wichtigste Aufgabe unerwähnt bleiben. Vielleicht wird es dem Tierarzt dann auch etwas leichter, in den möglichen Extremsituationen seiner beruflichen Existenz zu entscheiden, ob oder wie lange er in einer Stellung unter äußerster Anstrengung zur Verbesserung der jeweiligen Situation aushalten kann oder unter Protest verlassen muß. Es ist das Verdienst von Rozemond (1986), diese Extremform des eingangs beschriebenen Dilemmas erwähnt zu haben. An welche Situation Rozemond gedacht hat, ist nicht bekannt. Die Frage könnte sich aber jedem Tierarzt stellen, der mit —> Tierversuchen, in der -> Nutztierhaltung oder in Schlachthöfen zu tun hat.

-> Ethik ist die Wissenschaft vom Seinsollenden und darf nicht vom jeweiligen Ist-Zustand bestimmt werden. Es mag unrealistisch sein, den Menschen in seiner Berufsethik zu überfordern, aber warum sollten deshalb die -> Idealziele durchaus verbannt werden? Und so müßte man auch die Forderung stellen dürfen, daß ein Tierarzt in das Leben und Wohlbefinden eines Tieres nur dann eingreifen darf, wenn es im -> Interesse des Tieres erforderlich ist. Günter Wittke hat (1980 b) eine „Arbeitsethik” für die Tierärzte gefordert und angefügt: „Der expliziten Formulierung bedürfen ethische Vorstellungen in Bezug auf das Tier schon deshalb, weil sie sonst nicht lehrbar wären. Sie zum Lehrgegenstand zu machen, ist aber unerläßlich, weil es keine biologische, keine medizinische und erst recht keine veterinärmedizinische Ausbildung geben darf, die auf dem Gebiet des Tierexperiments nur technische Fertigkeiten vermittelt, ohne auch ethische Faktoren zu bedenken und das Bewußtsein für die Verantwortlichkeit des Handelnden zu schärfen.”

Die aus dieser Überlegung entstandenen ethischen Kodizes können allerdings nicht befriedigen; das kann man leicht feststellen, wenn man die verschiedenen Normenkataloge studiert. Selbst als Diskussionsgrundlage sind sie kaum brauchbar, weil sich die Fragestellung nicht über den gesetzlich abgesteckten Rahmen hinauswagt. Zum Wesen des ethischen Fragens gehört aber gerade, über das gesetzlich Vorgeschriebene hinauszudenken. Heiko Hörnicke hat (1985, S. 198) als Einführung in entsprechende Praktika „Einführungsseminare über ethische Fragen der Tierschutzgesichtspunkte” verlangt und damit einen Vorschlag aufgegriffen, der schon anläßlich einer Gesprächsrunde bei Frau Dr. Veronica Carstens am 8.9.1981 gemacht worden war. Auch Hyram Kitchen hat sich (1983) mit diesem Thema befaßt, konnte aber auch die eingangs berührte Frage nicht unterdrücken: „who will teach the teachers”. Mit anderen Worten und zugleich etwas weitergedacht: das Gespräch zwischen Vertretern der biomedizinischen Forschung aus Human- und Tiermedizin und der Normwissenschaften muß intensiver in Gang kommen. Bisher hat der –> ethische Tierschutz in der tierärztlichen Ausbildung jedenfalls nur eine geringe Rolle gespielt, wie man der Untersuchung von Joachim Hölter (1979) entnehmen muß. Was der praktische Tierarzt trotzdem leistet, hat Gunhild Muntau (1975) zusammengetragen.

Literatur: Im Text erwähnt.

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