Unerläßliches Maß

Die Forderung, —> Tierversuche auf das U.M. zu beschränken, ist in der Bundesrepublik in § 9 Abs.2, in Österreich in § 6 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes und in der Schweiz in Art. 14 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes von 1978 verankert.

Der Gesetzgeber hat mit dieser Forderung die Erlaubnis zu Tierversuchen an die strengste der möglichen Einschränkungen gebunden, also nicht an das nur vernünftige oder das notwendige, sondern eben das U.M. Man kann also nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß der Gestzgeber mit der geforderten Beschränkung deutlich machen wollte, daß auch die Berufung auf die —> medizinische Ethik noch keine generelle Vollmacht gibt, Tieren —> Schmerzen, –> Leiden oder —> Schäden zuzufügen, sondern daß immer wieder geprüft werden muß, ob ein geplanter Versuch wirklich „unerläßlich” ist, d. h. ob wirklich ein Zwang vorliegt, der keinen anderen Ausweg mehr offen läßt. Vgl. hierzu auch –> Notwendigkeit.

Die Forderung, Tierversuche auf das U.M. zu beschränken, soll den, der Versuche beantragt, und den, der sie zu genehmigen oder abzulehnen hat, auf den Ernst der zu treffenden Entscheidung hinweisen. Der appellierende und nicht definierende (was ist „unerläßlich”?) Charakter der gegebenen Norm ist eben nicht als ein hochformuliertes verbales Alibi für den Tierschutzwillen des Gesetzgebers zu verstehen, sondern als eine Aufforderung an die ethische Verantwortung der beteiligten Personen, sich die —> Rechtfertigung ihrer Entscheidung nicht leichter zu machen, als es die Situation erlaubt. Mit anderen Worten: zwischen der Not des Menschen, die beseitigt werden soll, und der Not der Versuchstiere, die dafür leiden sollen, muß eine vertretbare Relation bestehen. Und wo sie nicht besteht, darf auch der geplante Versuch nicht gemacht werden, bzw. die Forschung muß andere methodische Wege suchen; es wäre nicht das erste Mal, daß die Blockierung eines traditionellen Weges zur Entdeckung neuer und oft sogar besserer Methoden führt.

Obwohl die Tendenz des Gesetzes klar ist, darf man doch die Probleme der Anwendung nicht aus dem Auge verlieren. Wir müssen davon ausgehen, daß die bisherige Praxis ziemlich großzügig war und daß der Gesetzgeber deswegen die Genehmigungsbedingungen in einigen Punkten verschärft hat. Trotzdem bleiben Ermessensfreiräume, die so oder so genutzt werden können. Das gilt insbesondere für die verschiedenen Bewilligungsorgane und —> Ethikkommissionen, denen damit eine schwere —> Verantwortung aufgebürdet wird.

Gegner und Befürworter der Tierversuche nähern sich dieser Norm aus unterschiedlichen Positionen, und der Versuch, mehr Einvernehmen zu erzielen, muß damit beginnen, nach allgemein akzeptablen formalen und inhaltlichen Kriterien für die Genehmigung oder Ablehnung von Anträgen zu suchen. Zum U.M. aus der Sicht der Biomedizin s. H. Schnappauf (1984). Für die praktische Arbeit ist es aber vielleicht notwendig, die Meinungen darüber anzunähern, welche Versuche zunächst noch unvermeidbar sein werden und auf welche Versuche man schon jetzt ohne Negativfolgen verzichten kann. Dazwischen liegt ein vorläufig noch weites Feld strittiger Versuche, über die man sich nur schwer und nur von Fall zu Fall wird einigen können. Trotzdem muß der Versuch dazu immer wieder neu gewagt werden.

Unter ethischem Aspekt ist zu fragen, ob der Gesetzgeber gut beraten war, den wohl unvermeidbaren —> Kompromiß mit der Formel vom U.M. zu suchen. Durch diese Formel wird nämlich unterstellt, daß der Tier- versuch als solcher ethisch zulässig sei und daß man nur dem Miß- brauch durch entsprechende Auflagen steuern müsse; denn eine –> Handlung, die in bestimmten Fällen als unerläßlich bezeichnet wird, kann ja nicht als solche schlecht sein. Moralisch Unzulässiges kann in schweren —> Konflikten als „kleineres Übel” (vgl. –> Güterabwägung) unvermeidbar sein, aber niemals unerläßlich. Wenn man bei der Abschaffung der Leibeigenschaft, der Folter, der Todesstrafe oder der Rassendiskriminierung als Schritt auf dem Wege eines generellen Verbotes zu- nächst die Beschränkung auf das U.M. verlangt hätte, dann wären sie vermutlich heute noch nicht abgeschafft.

Auch in Gesellschaften mit hohen ethischen Anforderungen kann das Unzulässige nicht gänzlich verhindert werden. Als Folge der menschlichen Schwäche sind Fehlhandlungen unausrottbar, aber doch niemals unerläßlich.

Weitere Literatur: A.F. Goetschel 1986, Chr. von Greyerz u. a. 1986, S. 112-114, O. Höffe 1984, S. 92-96, F. Hurnik und H. Lehman 1982, U. Vogel 1985, W. Wilk 1983.

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