Unparteilichkeit

Unparteilichkeit ist als Prinzip der Gerechtigkeit, zunächst ganz selbstverständlich und unstrittig, aber ein kaum lösbares Problem, wenn es um die Gerechtigkeit gegenüber Menschen und Tieren geht. Wie soll der Mensch im —> Konflikt der Interessen zwischen sich und seinen Artgenossen einerseits und Tieren andererseits unparteiisch entscheiden?

Hier hat John Rawls in seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit” (1979) einen zwar nicht einfachen, aber immerhin bedenkenswerten Vorschlag, der nach Ernst Tugendhat (1983) einen „Kraftakt der Phantasie” erfordert. „Als Leitfaden für diesen Kraftakt” (so Tugendhat) „schlägt Rawls folgendes fiktives Verfahren vor. Wir lassen, sagt er, das Problem nicht von einem Unbeteiligten, sondern von den Beteiligten selbst entscheiden, aber wir binden ihnen, wie der Gestalt der Justitia, einen ,Schleier der Unwissenheit’ um: sie sollen nur das reale Problem selbst kennen, nicht hingegen wissen, welche Stelle sie darin einnehmen werden. Und nun brauchen wir bei ihnen keinen Gerechtigkeitssinn vorauszusetzen. Wir lassen sie wählen, wie sie das Problem aus der Perspektive ihres Eigeninteresses gelöst sehen möchten.” Richard Purtill (1977, S. 148f.) greift diesen Gedanken auf, indem er das vorgeschlagene Verfahren in das populäre Bild einer Mutter kleidet, die ein Stück Kuchen unter ihren zwei Kindern teilen will und sagt: „Mark, du teilst das Stück, und Tim darf zuerst nehmen!” Mark würde also im eigenen Interesse möglichst genau teilen.

Wie soll man aber nun den einleuchtenden Sinn des Gedankenexperiments für die U. gegenüber dem Tier fruchtbar machen? Vermutlich gibt es nur die Möglichkeit, den Rawl’schen Grundgedanken als Vorschrift an den Ethiker zu formulieren, die etwa so lauten könnte: Wenn du ethische Normen für das —> Handeln des Menschen gegenüber dem Tier entwirfst, so beschreibe und bewerte die Interessen beider so, daß du dich hernach in jeder der beiden Positionen als deinem Wesen gemäß und also gerecht behandelt fühlen könntest, gleichgültig, ob du als Mensch oder Tier auf dieser Welt existieren würdest.

Sicherlich ein ungewohnter geistiger Kraftakt, bei dem außerdem die Gefahr des –> Anthropomorphismus gesehen werden muß. Eine Hilfe findet sich bei Rudolf Ginters, der (1982, S. 157-166) verschiedene Stufen der U. unterscheidet. Die Stufen 1 und 2 werden unter dem Stichwort —> Verallgemeinerungsprinzip zusammengefaßt.

Stufe 3 verlangt: „Sich in die Lage der Betroffenen versetzen« (S. 161). Dazu heißt es dann (S. 162): „Das U.prinzip fordert uns also auf, eine Situation aus allen Sichten zu beurteilen, nicht nur aus der Sicht dessen, der handelt und daraus einen Vorteil zieht … , sondern auch aus der Sicht dessen, der erleidet und die Nachteile zu tragen hat. Eine sittliche —> Norm muß aus jeder Perspektive — mit Ausnahme der egoistischen — akzeptabel sein.” Vgl. hierzu auch —> Empathie. Als vierte Stufe verlangt Ginters (S. 164): „Die unterschiedlichen Wünsche, Interessen und Ideale anderer berücksichtigen.” D. h. die persönliche ethische —> Einstellung nicht als generell verbindlich darzustellen, sondern immer dann als solche zu kennzeichnen und zu begründen, wenn sie von der herrschenden —>Moral wesentlich abweicht.

U. verpflichtet keineswegs zur Neutralität im Sinne eines Nicht-Stellung-Nehmens, sondern verlangt vom Unparteiischen nur, alle Argumente mit gleicher Sorgfalt zu prüfen und allen Beteiligten mit gleicher Unvoreingenommenheit zu begegnen. U. wird daher nicht nur vom Richter verlangt, sondern auch von jedem, der Werturteile abgibt, insbesondere vom Wissenschaftler, der Sachverhalte unter ethischem Aspekt beurteilt –> Werturteil und Sachverhalt.

Weitere Literatur: K. Larenz 1979, S. 165-169, J. Rawls 1979, S. 211-220, Tom Regan 1983, S. 128f.

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