Verantwortung

Verantwortung, (Verantwortungsethik) bezeichnet das Verhältnis zwischen einem V.-Träger gegenüber einer V.-Instanz in bezug auf einen V.-Gegengestand. Häufig ist diese Situation aber nicht so klar, weil Verantwortung auch mit anderen geteilt wird und weil es nicht selten mehrere V.-Instanzen gibt. V. kann auch zu —> Konflikten zwischen der Beziehung gegenüber der V.-Instanz und dem eigenen Gewissen führen. Fragwürdig ist die Berufung auf die Eigenverantwortung dann, wenn sie mit einer überschätzung der eigenen Kompetenz verbunden ist oder wenn es an der Fähigkeit oder Bereitschaft fehlt, V. zu tragen. Dies gilt in besonderer Weise für den Wissenschaftler und Gutachter, der mit seinem Sachurteil oft auch das Werturteil (–> Werturteil und Sachverhalt) beeinflußt. „Sagesse oblige” (Wissen verpflichtet) ist die einprägsame Kurzformel von Hans Lenk (1983, S. 233).

I. Der Glaube an den stetigen Fortschritt durch Wissenschaft und Technik ist einer mehr nüchternen und eher skeptischen Beurteilung gewichen, und zwar nicht nur, weil zweckfrei betriebene Forschung oft genug mit gefährlichen oder schädlichen Folgen verbunden ist, sondern weil sich Forschung auch dann oft als „Fortschritt” in die falsche Richtung erweist, wenn sie in bester Absicht unternommen würde. Davon ist auch die Medizin nicht ausgenommen, wie C. F. v. Weizäcker (1978, S. 165) feststellte: „Hygiene und Medizin wollten Leben retten und erzeugten die Bevölkerungsexplosion.”

Zu lange hat sich die Wissenschaft an der These ihrer Wertneutralität orientiert, die C. F. von Weizsäcker (1978, S. 157) als Selbststilisierung bezeichnet, „eigens so gemacht, daß Fragen, die man normative Fragen nennen kann, außerhalb der Wissenschaft bleiben”. Zu lange blieb die von Hans Mohr (1980) gestellte Frage „Muß sich Wissenschaft rechtfertigen?” offen oder wurde als Ausdruck einer neuen Wissenschaftsfeindlichkeit abgetan, obwohl es doch nur darum ging, wissenschaftliches Handeln aus einem teilweise rechts- oder doch moralfreien Raum herauszulösen und – wie jedes andere menschliche Handeln auch – an ethische und rechtliche Normen zu binden. Nicht daß sich die Wissenschaftler in einem fragwürdigen Akt der Selbstüberhebung von Moral und Recht emanzipiert hätten: diese Sonderstellung ist ihnen von einer wissenschaftsgläubigen Gesellschaft bereitwillig eingeräumt worden. Sie betrifft alle Bereiche, insbesondere die Naturwissenschaften und ist auch im gesetzlichen Tierschutz erkennbar. Hugo Staudinger und Hans Behler (1976, S. 170) schreiben in bezug auf das deutsche Tierschutzgesetz von 1972: „Bezeichnenderweise gilt jedoch die Tierschutzgesetzgegebung nicht allgemein, sondern es wurden jeweils Ausnahmebestimmungen für die Wissenschaft getroffen. Heute läßt die Tierschutzgesetzgebung und insbesondere ihre Handhabung der Wissenschaft faktisch völlig freie Hand.” Nicht aus bloßer Willkür, wie man einräumen muß, sondern weil der Gesetzgeber mit Rücksicht auf die grundgesetzlich garantierte Forschungsfreiheit die Verfassungskonformität seiner Regelungen auch nicht annäherungsweise gefährden will, obwohl das Grundgesetz zwei so wichtige Begriffe wie —> Menschenwürde und —> Sittengesetz enthält, die nicht nur erlauben, sondern unter bestimmten Voraussetzungen sogar verlangen, dem sensibler werdenden Gewissen Rechnung zu tragen.

Der inzwischen erfolgte Abbau naiver Wissenschaftsgläubigkeit hat vom Abwurf der ersten Atombomben an begonnen und wurde von weitblickenden Wissenschaftlern selbst in Gang gesetzt. Kaum ein Forscher lehnt heute die mit seinem Tun verbundene V. einfach ab, aber in der Art und Weise, wie sie akzeptiert und in der Praxis wahrgenommen wird, bestehen große Unterschiede. Es gibt auch heute noch den Wissenschaftler, der die ethische Relevanz seines Handelns einfach leugnet: „Die Ethik muß sich der Wissenschaft anpassen, nicht umgekehrt” (Zitiert nach Arthur Kaufmann, 1985).

Die Selbstkontrolle der „scientific community”, die so oft als angemessene Institution zur Abwehr von Mißbrauch in Anspruch genom- men wird, kann die von ihr erwartete Selbstreinigungsfunktion ebenso- wenig voll erfüllen, wie irgendeine andere Selbstkontrolle auch. Wie könnte man sonst sagen, daß Wissenschaftler „Fakten manipulieren, Risiken verschweigen oder zu propagandistischen Zwecken aufbauschen” (Wolfgang Wild 1983, S. 99), oder „Vom Elend der Parteilichkeit bestellter Experten” (Erwin K. Scheuch 1982) sprechen? Eine Standesorganisation, die ihre „Schwarzen Schafe” nicht ausstößt oder zumindest bestimmte Handlungsweisen in öffentlich erkennbarer Weise verur- teilt, kann kein Vertrauen erwarten. Darum kann man die Mahnung von Hans Jonas (1979, S. 391) kaum ernst genug nehmen: „Immer muß der Wissende darauf gefaßt sein, später einmal wünschen zu müssen, er hätte nicht oder anders gehandelt.”

Was für die Wissenschaft auf dem Spiel steht, hat der Heidelberger Physiologe Hans Schaefer (1968, S. 164 ff.) so beschrieben: „. . . unsere nüchtern-wissenschaftliche Argumentation wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß sie in ihrer Wissenschaftlichkeit keinerlei Schutzwall gegen das uns bedrohende Unmenschliche aufrichte. Wir alle wissen, daß dieser Vorwurf der Wissenschaft gemacht wird. Aber Wissenschaft selbst kann ihrer Natur nach keine neue Ethik entwickeln, keine Normen der ‚Menschlichkeit’ setzen und kein Ende derselben konstatieren. Sie kann nur die Existenz solcher Normen, ihre Entstehungsgeschichte aufklären und sagen, warum uns das Ende einer anderswie definierten ‚Menschlichkeit’ hier oder dort herangekommen zu sein scheint . . .

Außerdem aber brauchen wir offenbar ein neues Konzept der Menschlichkeit oder besser noch jener Unmenschlichkeit, vor der wir uns zu hüten hätten, und dabei müßten wir einsehen, daß es gerade die Wissenschaft ist, die wir dabei zu kontrollieren hätte. Sie scheint ja alles ,machbar’ zu machen, sie setzt neue Herzen ein, verlängert das Leben auf nie vorher gesehene Weise, erlaubt uns, Leben zu schaffen und zu vernichten, kurz sie ermöglicht es, all das zu beeinflussen und zu ändern, was bislang dem gnädigen oder gnadenlosen Walten der Natur überlassen war. Es scheint, daß, wenn wir alles dürfen, was wir können, unsere Sohlen wieder unsicher werden und Wolken und Winde der Willkür wieder mit uns spielen.

Dieses drohende Zukunftsbild, oft beschworen, mag eintreffen. Notwendig ist seine Verwirklichung nicht. Was wir beklagen müssen, ist ja nur, daß sich die Sollvorstellungen von einer Gesellschaft der Zukunft noch nicht an die technischen Möglichkeiten angepaßt haben. Mir scheint jedoch, daß wir gerade in unseren Tagen dabei sind, diesen Mangel zu korrigieren. Es wird dabei unerläßlich sein, den prinzipiell a-humanen, auf keine gesellschaftlichen Folgen bedachten Tatendrang der Wissenschaft wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das Schwierige dabei ist, daß Wisenschaft, aus welchen Gründen auch immer, in unserer Gesellschaft einen ungewöhnlich (ich möchte sagen: ungebührlich) hohen Rang einnimmt. Ohne daß ihr Prestige sinkt, wird man wohl kaum gewahr werden, daß sie allein eben nicht unsere Zukunft meistert, so wesentlich sie für unsere Zukunft auch sein mag. Da alles ,machbar’ wird, muß der Katalog auch des wissenschaftlich Erlaubten durchdacht und formuliert werden.”

Trotz solcher Stimmen wird nur ausnahmsweise der Fall eintreten, daß man sich, wie Hans Ruh (1983, S. 149) schreibt, von der Naturwissenschaft an die Ethik wendet: „Ich sage Dir, daß ich verantwortlich handeln will, sage Du mir, worin solches verantwortliches Handeln besteht.”

II. Von der V. des Wissenschaftlers zu reden, heißt auch von V.ethik zu sprechen, wie sie in der angloamerikanischen Philosophie unter dem utilitaristischen Begriff des „Konsequenzialismus” (Tom Regan 1983, S. 140-143) diskutiert wird.

V.ethik ist ein Begriff, der in Max Webers 1919 erschienenem Aufsatz „Politik als Beruf” (1982) eine Rolle spielt. Webersieht in der V. ethik eine Konzeption zwischen (1) der Gesinnungsethik, die den ethischen Wert einer Handlung nicht am Erfolg, sondern an der Absicht mißt, und (2) der Erfolgsethik, die nur die Folgen bewertet und die Absicht als zweitrangig betrachtet; vgl. Johannes Gründel (1982, S. 189f.). V-Ethik orientiert sich einerseits an den Normen der —> Ethik, gleichgültig, wie schwer sie zu erfüllen sind, behält andererseits aber auch die Wirklich- keit im Auge und versucht, diese den angestrebten Normen immer mehr anzupassen. Auf die Probleme des —> Tierschutzes übertragen, heißt dies: die V-Ethik weiß sehr wohl, wie sich der Mensch eigentlich verhalten sollte, aber, bei aller Konsequenz in der Ethik, bleibt sie im konkreten —> Handeln nicht beim „Alles-oder-Nichts”, sondern weiß, daß ethische Ziele nur schrittweise und in Annäherungswerten erreich- bar sind. Der Verdacht, daß diese V.ethik, weil sie so schwer zu fassen ist und große individuelle Unterschiede zuläßt, auch oder gar nur als moralisches Entlastungskonzept in Anspruch genommen wird, kann man nur dadurch ausräumen, daß man deutlich erkennbare Schritte in Richtung auf das angestrebte Ziel unternimmt. Das gilt auch für die —> medizinische Ehtik und auch für die Tierversuche. Solche Schritte sind aber nur spärlich zu erkennen. Um so fragwürdiger ist es, daß sich der Codex experiendi in seiner Präamble (1983, S. 776) zu einer „strengen Verantwortungsethik” bekennt: das Bekenntnis zu einer „Gummi- Ethik”, wie sich im Ungenügen der dann folgenden „Ethischen Leitsätze” selbst erweist.

V.ethik ist eine relative Ethik, wie sie z. B. von Albert Schweitzer (Werke 2, S. 387) strikt abgelehnt wird. Das gute Gewissen, daß diese Ethik ihren Anhängern läßt, weil sie ja nur bescheidene Forderungen stellt, ist für ihn „eine Erfindung des Teufels” (S. 388). Das Mindeste, was von der V.ethik verlangt werden muß, ist der Verzicht darauf, —> Rechtfertigung, also ein „gutes Gewissen” zu vermitteln und das Risiko der späten Reue (im Sinne von Hans Jonas s. oben) oder gar einer Verurteilung durch die Nachwelt zu verdrängen. Das Wesentliche ist nicht das graduelle Versagen gegenüber dem Gesollten (darin sind alle Menschen gleich), sondern das grundsätzliche Nicht-sehen-Wollen des Versagens überhaupt.

Selbstverständlich kann von Versagen nur da die Rede sein, wo ein entsprechendes Unrechtsbewußtsein herrscht. Noch bis vor wenigen Jahren konnte sich der biomedizinische Forscher „in Übereinstimmung mit den vorherrschenden religiösen und philosophischen Vorstellungen unseres Kulturkreises” fühlen (—> Tierversuche VI). Aber seit der Diskussion der letzten Jahre ist dieses Gefühl der Sicherheit im Schwinden begriffen. Man beginnt, sich mit solcher Schuld abzufinden, aber auf eine eher zweifelhafte Weise. Jürgen Dahl beschreibt das (1984, S. 217) so: „Man konstatiert die Schuld, findet sie ziemlich tragisch, aber eben doch auch herkömmlich und vertraut, so daß man keine Scheu trägt, sie auf sich zu nehmen: Ein unausweichlich menschlicher Konflikt, den zu bekennen kaum Gram bereitet, so wie ja auch jene, die gegen das Abschlachten von Robbenbabys protestieren, sich bedenkenlos an einem Kalbsleberwurstbrot stärken .. .”

Wer V.ethik bejaht, sollte nicht vergessen, daß es nicht nur eine V. gibt für ein Anders-Machen als bisher, sondern auch für das Weitermachen wie immer, für das aktive Tun ebenso wie für das passive Geschehenlassen.

Weitere Literatur: D. Birnbacher und N. Hoerster 1982, S. 305-339, W. K. Frankena 1984 S. 77-96, F. Fraser-Darling 1980, J. Gründel 1980, S.189-199, H. Lenk 1986, H. Mark11986, Tei13, T. Rendtorff 1982, H. Ringeling 1977, J. Schwartländer1974, R. Spaemann 1982, S. 61-72, W. Weischedel 1958.

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