Nutztierhaltung

Unter Nutztieren sind hier alle Tierarten verstanden, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte domestiziert und als Arbeitstiere, Jagdgehilfen, Reittiere oder als Lieferanten tierischer Produkte gehalten, gezüchtet und benutzt hat. Heute gelten als Nutztiere in erster Linie landwirtschaftliche Nutztiere, (also insbesondere Rinder, Schweine, Pferde, Schafe, Ziegen, Kaninchen und Geflügel), ferner Fische und Bienen sowie Pelztiere und Versuchstiere. Die davon betroffenen Tierarten nehmen ständig zu, weil einige der bisher wild gefangenen oder erlegten Arten in größerer Tierzahl als bisher gebraucht werden oder weil die Zucht und insbesondere die Intensivhaltung die Kosten senkt und den Umsatz steigert. Zucht, Aufzucht und Haltung wird industrialisiert und somit zur „Tierproduktion”. Gelegentlich entstehen auch Zwischenformen der Tierhaltung, wenn Wildtiere im Gatter gehalten werden, wie neuerdings gelegentlich das Rotwild; vgl. hierzu —> Jagd. Zur Weckung des Problembewußtseins haben auch engagierte Veröffentlichungen wie z. B. von Wolf-Michael Eimler und Nina Kleinschmidt (1987) beigetragen.

I. Zunächst gilt ganz allgemein, daß Tierhaltung immer dann problematisch und ethisch relevant ist, wenn die Anpassungsfähigkeit der betroffenen Tiere überfordert wird. Solche Überforderungen sind weit verbreitet, aber es hat sie schon früher gegeben.

(1) Der Streit um die Intensivhaltung ist seit dem Erscheinen von Ruth Harrisons Buch „Tiermaschinen” (1965) aufgebrochen. Die Entwicklung ist von den USA über England zu uns gekommen und war offenbar unaufhaltbar. Außerdem ist sie von allen Seiten als notwendiger Fortschritt propagiert worden, als die Gefährlichkeit unseres Machbarkeitswahns noch nicht erkannt war. Erstaunlicherweise haben wir daraus aber nichts gelernt, denn auch heute sind Entwicklungen im Gange, die noch zu stoppen wären, uns in wenigen Jahren aber über den Kopf wachsen werden. Das gilt ganz besonders für die Ausbeutung von Nutztieren, indem sie auf immer höhere Ausbeutungsgewinne hin gezüchtet und genetisch manipuliert werden. Die Möglichkeit, veränderte und nur auf die –> Interessen des Menschen hin angelegte Tierarten zu züchten, ist offenbar schon mehr als nur Zukunftshorror und jedenfalls unvereinbar mit dem, was man unter –> geschöpflicher Würde versteht.

(2) Die Umstellung der Tierhaltung während der sechziger und siebziger Jahre erfolgte unter dem Druck der Gesetzmäßigkeiten industrieller Güterproduktion. Man mußte billig „produzieren”, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies hatte zur Folge, daß möglichst viele Tiere raum-, zeit- und arbeitssparend zur Produktion gebracht werden mußten, was nur durch Umstellung der bisherigen Lebensweise der Tiere erreichbar war.

Die Belastungen, denen die betroffenen Tiere dadurch unterworfen werden, sind vielfältig. Es gibt Störungen des –> Wohlbefindens, die mit nur geringen Schwankungen sämtliche intensiv gehaltenen Tierarten betreffen, aber es gibt auch Belastungen, die sich von Art zu Art unterscheiden. Zu den allgemeinen Belastungen gehören die denaturierte Umgebung und die ebenfalls künstlich geschaffenen Lebensbedingungen.

Der Lebensraum ist auf ein Minimum eingeengt und erlaubt oft nur das Aufstehen und Hinlegen, aber schon nicht mehr das Umdrehen. Das Leben wird bei voll angelegten Sinnen und Empfindungen auf bloße Nahrungsaufnahme, Verdauung und Wachstum reduziert. Es ist ohne Reize auf die oft hochentwickelten Sinne: kein normaler Wechsel im Tages- und Jahreszeitenrhythmus, keine Nahrungssuche, nichts zu erkunden, nichts zu erleben.

Aus der Einschränkung oder gar völligen Unterdrückung artspezifischer Verhaltensweisen entsteht —> Leiden, das dann seinerseits zu Kompensationsreaktionen führt, die oft genug auch —› Schmerzen und –> Schäden hervorrufen; diese versucht dann der Tierhalter durch „prophylaktische” Maßnahmen, wie Dunkelhaltung, oder das Kupieren gefährdender oder gefährdeter Körperteile, wie Hörner, Schnäbel oder Schwanzspitzen, in Grenzen zu halten.

Die Folgen sind schrecklich und müssen oft mit Medikamenten kompensiert werden. Trotzdem sterben in der Bundesrepublik jährlich 400000 Schweine auf dem Transport in die Schlachthäuser (vgl. I. Müller 1979, S. 149); dies nur als ein Indiz für das gestörte Wohlbefinden unserer Nutztiere. Um das Leiden der Tiere zu reduzieren, wird immer intensiver versucht, die Tiere durch —> Züchtung den modernen Haltungs- bedingungen anzupassen.

(3) Ein Sonderfall der N. ist das Mästen von Gänsen zur Gewinnung der von Feinschmeckern so geschätzten Gänsestopfleber. Als Mensch kann man sich diese Qual kaum vorstellen. Erst William Keares (1982, S. 38) hat uns eine Vergleichsmöglichkeit gegeben, in dem er errechnete, daß die den Tieren eingezwungene Menge von „dreimal täglich bis zu 500 Gramm Getreide” sich so auswirkt, „als müßte ein Mensch im gleichen Zeitraum 15 Kilogramm Spaghetti hinunterschlingen”, und das täglich.

Am 7.2.1983 wurde im Europäischen Parlament über Gänsemästen verhandelt. Eine Entscheidung gegen die übliche Mastpraxis scheiterte an dem Gutachten einer Expertengruppe des französischen Tierschutzbundes, die „keinerlei unmenschliche oder unannehmbare Tierhaltungspraxis feststellte”. Auf beharrliches Rückfragen hat das Büro des Europ. Parlamentes dann mitgeteilt, daß es sich bei dem Gutachten um einen „Report of the Bureau of the Committee on the fattening of geese on South West France” handelte. Alle drei Mitglieder waren Ministerialbeamte. Konrad Lorenz hat in einem Brief vom 1.9.1983 an Dieter Backhaus von der Redaktion „Das Tier” die Argumentation der Gutachter als „glatte Lüge” und die weitere Duldung der Zwangsmast als „Schande für Europa” bezeichnet. Der Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung in 2305 Heikendorf hat den Sachverhalt dokumentiert und bemüht sich um eine Neuberatung im Europaparlament.

Das Mästen von Gänsen ist in der Bundesrepublik Deutschland verboten, aber „dank” der EG und unserem liberalen Wirtschaftssystem können die entsprechenden Erzeugnisse ungehindert eingeführt werden. Sie gehören zur Kategorie der Luxusprodukte, wie Froschschenkel auch. Und weil es einem an sich erfreulichen Trend unserer Zeit entspricht, daß auch Menschen mit durchschnittlichem Einkommen gut leben können, nimmt der Konsum solcher Produkte auch noch ständig zu; das ethische Bewußtsein, das diesen Konsum steuern sollte, bleibt dagegen so unterentwickelt wie vorher. Entsprechendes gilt auch in anderen Bereichen des Luxuskonsums, etwa in bezug auf Pelze, die als Wärmeschutz heute weitgehend ersetzbar sind und eigentlich nur noch aus modischen Gründen oder als Prestigeobjekt getragen werden. Vgl. hierzu —> Luxus und Freizeitvergnügen I/1.

(4) Zu den Nutztieren gehören auch die Pelztiere, die im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Nutztieren erst seit etwa fünfzig Jahren in Farmen gehalten werden, also noch kaum als domestiziert gelten können. Darum ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die aus der Beschränkung oder Unterdrückung angeborener Verhaltensbedürfnisse resultierenden Leiden bei Pelztieren noch erheblich gravierender sind, weil die Intensität dieser Leiden bei Fast-Wildtieren entsprechend höher eingeschätzt werden muß. Vgl. hierzu E. Haferbeck (1982, 1986). H. Lamberts (1983), M. Speich (1983, S. 78-97), S. Walden und G. Bulla (1984, S. 98-107). Die Haltungsbedingungen für solche Tiere sollten daher an die Normen der Tiergartenhaltung angepaßt werden, wie dies zur Zeit der Entstehung der Pelztierfarmen in den zwanziger und dreißiger Jahren auch die Regel war. Ein vom deutschen Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Auftrag gegebenes und am 26.9.1986 vorgelegtes „Gutachten zur tierschutzgerechten Haltung von Pelztieren in Farmen” kommt zu einem insgesamt positiven Ergeb- nis. Allerdings mußte eingeräumt werden, daß die in bezug auf das Leiden maßgebliche ethologische Grundlage fehlt. Entsprechend entschieden ist die Kritik im Gutachten des Deutschen Tierschutzbundes und die Stellungnahme der Ethologischen Gesellschaft.

(5) Auch Versuchstiere, insbesondere Kleinnager, werden in großer Zahl gezüchtet und gehalten. Im Regelfall ist die medizinische For- schung am Tier (—> Tierversuche) an gesunden und verhaltensnormalen Tieren interessiert, gelegentlich aber auch an Tieren mit angezüchteten Mängeln oder Schwächen, wenn entsprechende Therapiemöglichkeiten erforscht werden sollen. Ausgesprochene Qualzüchtungen sind gemäß § 11 b der deutschen Tierschutznovelle zwar verboten, doch: „Das Verbot gilt nicht für die Zucht von Versuchstiermutanten, die für die Durchführung bestimmter Tierversuche notwendig sind.” Für die Zucht und Haltung von Versuchstieren ist eine eigene Teildisziplin der Biomedizin entstanden, die Versuchstierkunde.

(6) Soweit die Frage der N. ein wissenschaftliches Problem ist, wird darüber sowohl innerhalb der —> Ethologie als auch zwischen Ethologen und Veterinärmedizinern gestritten. Dabei kommt es gelegentlich auch zu Kompetenzüberschreitungen, wenn Tiermediziner den Ethologen die Zuständigkeit für die Feststellung von Leiden bzw. Verhaltensstörungen abstreiten; vgl. H. Ch. Löliger (1986).

(7) Im weiteren Rahmen der N. sind auch noch einige andere Themen von Belang, und zwar Eingriffe, die nicht aus tierärztlichen Gründen, sondern zur Vereinfachung der Tierhaltung üblich sind, wie etwa das Kastrieren, das Enthornen von Rindern, das Kürzen von Schwänzen bei Ferkeln und Lämmern sowie das Kürzen der Schnäbel und Krallen bei Hühnern (§ 5 des Tierschutzgesetzes); vgl. hierzu auch das Stich- wort —> Schmerz, Schmerzen I. Zu erwähnen wären auch die Themen –> Tiertransporte, –> Schlachtung und –> Züchtung.

II. Das ethische Problem der N. wird zwar im Rahmen der entsprechenden Stichworte behandelt, trotzdem ist es notwendig, auf einige speziell mit der N. verbundene Themen einzugehen. Erwähnenswert ist jedenfalls der Umstand, daß ethische Überlegungen im Blick auf das Tier zuerst das Nutztier betrafen. Schon das Alte Testament (Sprüche Sal. 12, 10) lehrte: „Der Gerechte erbarint sich seines Viehs, aber der Gottlose ist unbarmherzig.” Es lohnt sich, der Aussage in der ersten Satzhälfte textkritisch nachzugehen. Die ökumenische Einheitsübersetzung sagt nämlich schon mehr: „Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht . . .” Noch deutlicher wird die wörtliche Übersetzung bei Michael Pfliegler (1961, S. 117): „Es kümmert sich (hat Verständnis) der Gerechte um die Seele (Leben und Bedürfnisse) seines Viehs . . .” So wird das geforderte Mitempfinden als Erkennen und Berücksichtigen der Bedürfnisse des Tieres verstanden: eine Forderung, wie sie nicht moderner und dem Sachverhalt angemessener formuliert werden könnte, weil sie den Menschen dazu verpflichtet, die artspezifischen Bedürfnisse der Nutztiere zu erforschen und auf Berücksichtigung zu drängen. Was für eine großartige Beschreibung des beruflichen Auftrages der Nutztierethologen!

(1) Nach alttestamentlichem Verständnis gehört das Nutztier zur damaligen Großfamilie und das Tier überhaupt in den Bund, den Gott nach der Sintflut mit Noah schließt —> biblische Tierschutzethik. Ron Kilgour, einer der wenigen Ethologen, die sich auch mit ethischen Fragen befassen, hat (1979) in einer Veröffentlichung des Ökumenischen Rates der Kirchen geschrieben: „Mit Haustieren haben wir einen unausgesprochenen (?), ganz gewiß aber einen ungeschriebenen Vertrag: als Gegenleistung für die Aufgabe ihrer Freiheit sorgen wir für ihren Unterhalt. Wegen Mißachtung dieser Übereinkunft jedoch sehen wir uns etlichen größeren ethischen Verwicklungen gegenüber, die in ihrer ökumenischen Bedeutung weithin noch gar nicht erfaßt worden sind, und zwar Verwicklungen, was das Recht der Tiere betrifft, die schmerzlose Tötung von Schlachtvieh sowie die Intensivhaltung von Nutztieren . . .

Im Namen welches Rechts verfüttert der europäische Bauer, verfüttert der amerikanische Farmer das kostbare Korn an sein Vieh, um durchwachsenes Rindfleisch oder auch Schweinespeck zu produzieren für die lüsternen Märkte der Städte, und das, während zur selben Zeit ebendieses Korn Menschen vorenthalten bleibt, die nicht einmal das Notwendigste aufbringen können, sich überhaupt am Leben zu erhalten? . . .

Im Namen welch höherer Gewalt erklären denn eigentlich Experten, es sei nutzbringender und rationeller, Haustiere zwangszufüttern mit wissenschaftlich ausgeklügelten Hochleistungsfuttermitteln, nur damit diese Geschöpfe nur noch schneller auf die satten Märkte der Welt kom- men? Eine solche Art moderner Viehzucht zehrt ganz bedenklich an den Weltreserven an Energie.”

(2) Unter dem Stichwort —> Unteilbarkeit der Ethik wird verlangt, unsere Ethik auch in bezug auf die Tiere gelten zu lassen, —> Tierschutzethik ist demnach keine eigene Ethik, sondern Teil einer einzigen Ethik. Darum kann auch hier nicht nur vom Nutztier die Rede sein, sondern es müs- sen auch die Tierhalter und die Konsumenten erwähnt werden.

Die Kritik an verschiedenen Formen der N. ist sicher berechtigt und auch weit verbreitet, aber sie darf nicht in einseitige Schuldzuweisung ausarten. Darum muß völlig klar sein, daß die Mehrkosten für eine tiergerechte Haltung der Tiere nicht den Tierhaltern allein aufgebürdet werden dürfen, sondern daß die Gesellschaft ihre ethischen Vorstellungen auch gemeinsam finanzieren muß. Auch sollte nicht übersehen werden, daß die Technisierung auch für die Mehrzahl der Landwirte höchst unsozial und inhuman ist, weil sie nur die Großbetriebe begünstigt, während die Mittelbetriebe unter wachsenden Konkurrenzdruck geraten und die Kleinbetriebe ruiniert werden.

Selbstverständlich sind auch die Verbraucher beteiligt. Sie müssen dafür gewonnen werden, sich auf die zwar teureren, aber tiergerecht erzeugten Produkte umzustellen und die damit verbundenen Mehrkosten durch geringere Verbrauchsmengen auszugleichen. Damit würden sie nicht nur gesünder leben, sondern zugleich auch für die Kostendämpfung im Gesundheitswesen sorgen: Zwanzig Milliarden DM müssen allein in der Bundesrepublik jährlich aufgewendet werden, um die Krankheitsfolgen der Falsch- und Überernährung zu bekämpfen, und das in einer Welt voller Hungersnöte!

Trotzdem wird das System der auf Einsparung von Arbeitsplätzen abzielenden Intensivhaltung in immer mehr Ländern eingeführt und auf immer mehr Tierarten ausgedehnt. So wird sich auch weiterhin der Trend durchsetzen, immer mehr Überschüsse zu produzieren, deren Festpreise, Lagerung und Verschleuderung durch die Steuerzahler finanziert wird. Und weil die Preise niedrig bleiben, müssen die Landwirte weiter rationalisieren, was in der Regel nur noch zu Lasten der Tiere und der Qualität der Produkte erreicht wird. Die mit tierquälerischen Folgen verbundene Produktionssteigerung ist also gar nicht nötig, um hungernde Menschen zu ernähren, und infolgedessen auch nicht zu rechtfertigen. Von den Folgen sind auch die Landwirte selbst betroffen: nur die Großen machen Gewinne, die Kleinen leben am Rande des Existenzminimums oder geben auf. Hermann Priebe schreibt (1985, S. 16): „Diese Tierfabriken lassen ein Herabsinken der Humanität erkennen: in der Rücksichtslosigkeit gegenüber den uns anvertrauten Tieren und in der Zerstörung von Natur und Umwelt aus der Gewinnsucht einzelner. Daß dies von der Gesellschaft als ,unternehmerisches Verhalten’ hingenommen wird, zählt zu den moralischen Abstumpfungen unserer Zeit.”

(3) Die denaturierte und übertechnisierte Form der modernen N. wird denn auch seit Jahren heftig angegriffen und verurteilt, und zwar nicht nur von Tierschützern, sondern von Theologen und Philosophen (vgl. G. M. Teutsch 1983) und neuerdings auch von den Kirchen —> Kirche und Tierschutz. Die1984 erschienene Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland „Landwirtschaft im Spannungsfeld” hat die Frage der N. erneut aufgegriffen und dabei nicht nur eine Theologie der —> Mitgeschöpflichkeit entwickelt, sondern auch konkrete Vorschläge zu tierschutzgerechter Verbesserung gemacht. Agrarpolitisch wird die Abkehr von den „Agrarfabriken” und die Rückkehr zu bäuerlichen Struk- turformen verlangt. In Ziffer 92 der Denkschrift heißt es dann: „Die Landwirtschaft im Voll-, Zu- und Nebenerwerb ist so zu fördern, daß die aufgezeigten unerwünschten Entwicklungen in der Tierhaltung gestoppt und, wo notwendig, rückgängig gemacht werden. Die landwirtschaftliche Tierhaltung ist durch Einführung entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründbar sind, auf Bestandsgrößen und Haltungssysteme einzuschränken, die eine artgemäße Betreuung und damit einen verantwortungsvollen Umgang mit den Nutztieren erlauben.” Vgl. hierzu auch Eduard Wildbolz (1978), der besonders auf die Pflicht zur –> Solidarität mit den Schwächeren abhebt. Die humanistische Gegenposition (-> Anthropozentrischer Humanismus) wird von Basilius Streithofen (1985) vertreten.

(4) Art und Umfang der gegenwärtig üblichen Ausbeutung der Nutztiere ist ethisch nicht zu verantworten. Das gilt nicht nur in bezug auf Luxusprodukte, sondern auch für die normalen Eier-, Milch- und Fleischerzeugnisse, insbesondere wenn sie beim Konsumenten das gesundheitlich zuträgliche Maß überschreiten und durch Über- und Falschernährung zu Gesundheitsschäden führen. Ein —> Tierschützer, der sich nur auf das —> Wohlbefindensprinzip beruft, muß nicht vegetarisch leben (–> Vegetarismus), solange das von ihm verzehrte Fleisch von Tieren stammt, die ein gutes Leben und einen gnädigen Tod gehabt haben. Da dies häufig auch nicht annähernd zutrifft, kann er kaum anders, als sich zu einer drastischen Einschränkung seines Fleischkonsums zu entschließen. Beim derzeit üblichen Fleischverbrauch von ca. wo kg pro Kopf und Jahr trägt er nämlich im Laufe seines Lebens die Verantwortung für das oft qualvolle Lebenmüssen und Geschlachtetwerden von ca. 600 Hühnern, 22 Schweinen, 20 Schafen und 7 Rindern (vgl. Dietrich von Holst 1984, S. 628) bei.

III. Die rechtliche Situation (—> Gesetzlicher Tierschutz 1) ist aus verschiedenen Gründen kompliziert. Vgl. hierzu Karl A. Bettermann (1980), Eisenhart von Loeper u. a. (1985, S. 147-191), Albert Lorz (1986) und Rolf Stober (1982).

(1) Als das deutsche Tierschutzgesetz von 1972 verabschiedet wurde, war die Intensivhaltung schon nicht mehr aufzuhalten, und solange die im Gesetz vorgesehenen Rechtsverordnungen nicht erlassen waren, zögerte die Rechtsprechung einzugreifen. Dann wurde mit Rück- sicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tierhalter eine EG- Regelung angestrebt, die nach jahrelangem Hin und Her am 24./25.3.1986 vom Agrarministerrat beschlossen wurde und die statt der geforderten 600 cm² nur 450 cm² pro Henne verlangt. Diese Vorschrift gilt für neue Käfige ab 1988 und für alle Käfige ab 1995. Ob sich die tierschutzrückständigen Mitgliedsländer daran halten werden, ist eine ganz andere Frage; sicher ist nur, daß in der Bundesrepublik und einigen anderen Ländern kein formaler Anlaß zur Verbesserung mehr besteht.

Nirgendwo wird die Diskrepanz zwischen dem gewollten versprochenen und dem tatsächlich erreichten Zustand so deutlich, wie beim Vergleich zwischen den Anforderungen des §2 der Tierschutznovelle von 1986 und der vorherrschenden Wirklichkeit. §2 lautet: „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, (1) muß das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen, (2) darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, daß ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden.” Kein normal denkender Mensch könnte auf den Gedanken kommen, daß man den oft eindeutig tierquälerischen Zustand der N. mit dieser Vorschrift für ver- einbar halten kann, selbst wenn man sie im Vergleich zum Wortlaut von 1972 für eine punktuelle Verschlechterung zu Lasten der Nutztiere hält.

Wenn man die Prozesse gegen Hennenhalter verfolgt, stößt man immer wieder auf Formulierungen, die es erlauben, die in § 1 und 2 des Tierschutzgesetzes aufgestellten Grundsätze zu umgehen. Am 18.2. 1987 ist vom Bundesgerichtshof der Freispruch eines Hennenhalters bestätigt worden, und zwar nicht, weil man das Leiden der Tiere angezweifelt hätte, aber diese Leiden waren nach Ansicht des Gerichtes nicht „erheblich”, wie es in § 17 als Voraussetzung für die Strafbarkeit vorgeschrieben ist.

(2) In der Schweiz konnte die Entwicklung insofern anders verlaufen, als es sich um ein freies Land handelt, das sich nicht wie die Bundesrepublik in die Abhängigkeit eines Staatenbundes begeben hat, in dem die auf diesem Gebiet rückständigsten Gliedstaaten den Kurs bestimmen; vgl. -> gesetzlicher Tierschutz II. Herausragender Vorteil der schweizerischen Lösung ist das Verbot der Käfighaltung und die grund- sätzliche Prüfungs- und Bewilligungspflicht für die Einführung neuer Haltungssysteme. Enttäuschend ist jedoch, daß der Gesetzgeber in der Schweiz von seiner Unabhängigkeit nicht entschiedener Gebrauch ge- macht hat. Ein Land, das die Einfuhr tierquälerisch erzeugter Billigprodukte aus der EG verhindern kann und insofern eine Wettbewerbsverzerrung nicht befürchten muß, wäre durchaus in der Lage, eine wirklich tierschutzgerechte N. durchzusetzen. Vgl. hierzu A. F. Goetschel (1986, S. 29f., 39-41 und 63).

(3) Soweit europäische Rahmenrichtlinien zur N. vorliegen, können sie den Tierschutz in der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz nicht voranbringen, weil sie am System der Überschußproduktion festhalten; vgl. hierzu die Untersuchung von Hermann Priebe (1985): Die subventionierte Unvernunft. Der Streit um die N. könnte wesentlich entschärft werden, wenn die Tierhalter sich dazu entschließen könnten, den eigentlichen und auch einsehbaren Grund ihres Festhaltens an der Intensivhaltung in den Vordergrund ihrer Argumentation zu rücken: die Schwierigkeit, aus den festgefahrenen Zwängen des EG-Systems auszubrechen. Was von der EG zu erwarten ist, hat sich bei der Hennenregelung gezeigt, deren Festlegung auf längst reformbedürftige Ausbeutungsbedingungen offenbar zum Prinzip für alle Haltungssysteme werden soll. Und dies alles, obwohl wir die Folgen längst kennen: Überproduktion, die gewaltige Kosten verursacht. Aber niemand denkt daran, die Produktionsweise zugunsten der Tiere und der Steuerzahler zu ändern. Lieber erwägt man, die ranzig gewordene Butter wieder an die Kälber zu verfüttern („Gipfel des Unsinns”, so die F. A. Z. vom 1.10.1985) oder Seife daraus zu kochen. Wo bleibt hier der —> vernünftige Grund, den unser Tierschutzgesetz als einzig mögliche Rechtfertigung für die Abweichung vom Tierschutzgrundsatz voraussetzt?

Weitere Literatur: M. St. Dawkins 1982, K. Drawer 1980, D. W. Fölsch und A. Nabholz 1982, E. von Loeper, G. Martin, J. Müller u. a. 1985, Klaus Militzer 1986, H. H. Sambraus 1981 c, H. H. Sambraus und E. Boehncke 1986, G. M. Teutsch 1985 b, G. Weinschenck 1985, E. Wildbolz 1978.

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