Die Unmöglichkeit, auf —> Tierversuche zu verzichten, wird damit begründet, daß neue Therapien und insbesondere Arzneimittel im Tierschutz so weit entwickelt werden müssen, daß sie ohne nennenswertes Risiko auch an freiwilligen Testpersonen geprüft werden können, ehe sie in die klinische Erprobung gelangen. Der medizinische Fortschritt hängt also von einem geordneten System sukzessi- ver Erprobungen ab, an dessen Ende dann die Anwendung am Patienten erfolgt.
I. G. Meister hat in einem 1980 in der Evang. Akademie Rheinland- Westfalen (Mülheim/Ruhr) gehaltenen Referat „Sinn und Grenze von Tierexperimenten in der Arzneimittelforschung” den langen Weg beschrieben, der zur Entdeckung und Zulassung eines neuen Heilmittels gegangen werden muß.
Wenn die üblichen Tierversuche abgeschlossen sind, kann man die gewünschte Wirkung auch beim Menschen mit einer Sicherheit von 85-95 % und das Nicht-Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen mit einer Sicherheit von 70-80% ansetzen. Meister fährt dann fort: „Die Genauigkeit ließe sich auch auf 98% steigern. Allerdings brauchten wir dann – hochgerechnet – ca. 366000 Tiere. Hier sehen wir auch, wo die Grenzen zu suchen sind. Ich meine, das ist nicht mehr zu verantworten. Hier sollte man das Risiko auf den Menschen verlagern.
Wir verlagern das Risiko aber nicht etwa auf den Patienten. Die Frage, ob noch Nebenwirkungen – wie z. B. Unverträglichkeit u. ä. – zu erwar- ten sind, richten wir erstmalig an den Menschen. Zum ersten Mal appli- zieren wir jetzt Gesunden das Medikament in vergleichbaren niedrigen Dosen. Anfänglich sind es im allgemeinen zwei bis drei Personen. Häu- fig ist es der Chemiker, der diese Substanz entwickelt hat, der Mediziner, der im Labor die Wirksamkeit gefunden hat, und der Toxikologe. Ein klinischer Chemiker wird an den drei Personen alle Daten sammeln, die er vorher aus den Tierversuchen kannte. Er wird versuchen nachzu- weisen, ob die Verstoffwechselung der Substanz in diesen drei Perso- nen exakt so abläuft, wie man es vorher im Tierversuch sah. Ist das der Fall, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß die im Experiment ermittelten Daten auf den Menschen übertragbar sind, mittlerweile sehr hoch. Wir sind dann auch in Bereichen von 95 % sicher, daß keine Nebenwirkungen zu erwarten sind.
In dieser Phase der Erprobung der Unbedenklichkeit der Substanz beim Menschen gibt es ein Aufstocken. Es werden nun sogenannte Probanden-Studien mit Freiwilligen gemacht. Hierbei überprüft man die Verträglichkeit und die Verstoffwechselung des neuen Heilmittels an wo Personen, so daß man dann sehr genau über die Wahrscheinlichkeit der Nebenwirkungen informiert ist.”
Auf dem Hintergrund dieser Information kann man sich nun fragen, ob der von Meister beschriebene Punkt des Übergangs vom Tierversuch zum Versuch an gesunden Menschen unter den maßgeblichen Kriterien richtig gewählt ist oder ob man schon in einem früheren Stadium vom Tier auf den Menschen übergehen sollte, vorausgesetzt, daß man den Tierversuch überhaupt als ethisch zulässiges Mittel anerkennt, wie dies noch immer der Regelfall ist.
II. Jedenfalls fragt Hans Ruh (1985, S. 15) nach der fairen Verteilung von Nutzen und Lasten der biomedizinischen Forschung zwischen Mensch und Tier, wobei völlig klar ist, daß bei der heute üblichen Erprobungspraxis der eigentlich risikoreiche Teil der Versuche auf die Tiere abgewälzt wird, die Erprobung am Menschen aber erst beginnt, wenn das noch verbleibende Risiko gering und kalkulierbar geworden ist. Außerdem beginnt eine Arzneimitteltestreihe mit der jeweils geringstmög- lichen Dosis und wird ständig überwacht, damit der Test im Bedarfsfalle jederzeit abgebrochen werden kann. Insofern ist die A. mit Testperso- nen etwas wesentlich anderes als ein Tierversuch. Es ist also keines- wegs schockierend, mit Hans Ruh (S. 19) zu verlangen, daß der „stärkere Einsatz des Menschen in der medizinsichen Forschung zumindest diskutiert werden” muß.
Ruh wird sich damit heftige Angriffe einhandeln, und wer ihn an- greift, hat viele und angesehene Wissenschaftler auf seiner Seite, wie etwa Hans Jonas, der in seinem neuen Buch „Technik, Medizin und Ethik” (1985) vor solchen Erprobungen warnt, weil der Mensch da- durch zum Objekt der Statistik degradiert wird.
HI. Das gegen die Tests vorgebrachte Hauptargument ist aber nicht nur grundsätzlicher Art, sondern man hat Zweifel an der tatsächlichen „Freiwilligkeit” der Testpersonen. Oder sind es nicht vorwiegend in Not geratene Menschen, die sich hier melden und ihr Lebens- und Gesund- heitsrisiko verkaufen, um nicht Schlimmeres tun oder erdulden zu müssen? Die Frage ist sicher berechtigt, und zu ihrer Beantwortung sind zwei Abklärungen erforderlich: (1) ist der Verkauf des eigenen Risikos der Testpersonen ein Einzelfall, oder gibt es in anderen ethisch nichtangezweifelten Situationen ein ähnliches Risiko? (2) Wie hoch ist das Risiko einer Testperson im Vergleich zum Risiko in anderen Berufen und Situationen?
Die Gegner der üblichen und ja auch vorgeschriebenen Tests mit frei- willigen Versuchspersonen haben sich mit beiden Fragen aber noch nicht befaßt. Auch bei nur flüchtiger Erwägung zeigt sich nämlich, daß viele Berufe und Lebenslagen erheblich risikoreicher sind als die Beteiligung an traditionellen Probandenstudien. Seit 1946 sind z. B. im deut- schen Steinkohlebergbau 15 000 Menschen bei Betriebsunfällen zu Tode gekommen, ca. 8000 sterben jährlich auf unseren Straßen und 140 000 an den Folgen unmäßigen Rauchens, ohne daß deswegen die moralische Integrität der betroffenen Berufe oder Personen angezweifelt würde; zur Frage der Vergleichbarkeit s. –> Gleichheitsgrundsatz VI. Dabei ist ein- zuräumen, daß Autofahrer und Raucher ihr Risiko nicht gegen Entgelt tragen, sondern im einen Falle gegen eine oft notwendige Mobilität, im andern Falle gegen (etwas grob und pauschal formuliert) Suchtbefriedi- gung. Die unabdingbare Forderung nach —> Kohärenz unserer ethischen Wertungen verlangt, Lebens- und Gesundheitsrisiken gleicher Art und Gewichtigkeit auch entsprechend gleich einzuschätzen und jedenfalls keine willkürlichen Unterschiede zu machen.
Und wer hat je eine Untersuchung darüber angestellt, wie groß das Risiko dieser „menschlichen Versuchskaninchen” wirklich ist? Renate Stehle schreibt dazu (1983): „Um zu beurteilen, wie groß das Risiko die- ser ersten Versuche am Menschen tatsächlich ist, wurden in einem deutschen Unternehmen alle Ergebnisse der Prüfungen von 23 Jahren analysiert. Insgesamt wurden 157 neue Substanzen sowie 203 Kombi- nationen und Zubereitungen getestet. 3o davon kamen in den Handel. An den Prüfungen waren 200000 Menschen beteiligt. Es gab keinen einzigen tödlichen Zwischenfall und keine bleibenden Gesundheitsschäden.” Potentiell schädigende Langzeitwirkungen sind aber wohl trotzdem nicht auszuschließen.
Selbst wenn es aber stimmt, was über die Herkunft der Probanden gesagt wird, es ist unerheblich: sie verdienen zwar ihren Lebensunterhalt, aber sie verkaufen dafür weder ihre Gesundheit noch ihr Leben. Im übrigen gilt selbstverständlich die revidierte Deklaration des Welt- ärztebundes von Helsinki und Tokio „Empfehlung für Ärzte, die in der biomedizinischen Forschung am Menschen tätig sind”.
IV. Eine ganz andere Frage ist die, ob der Mensch, wenn ihm Leben und Gesundheit wirklich so viel bedeuten, wie oft gesagt wird, nicht die Pflicht hätte, auch einen wirklichen Anteil am Risiko der Erprobung neuer Medikamente oder anderer Therapien zu übernehmen. Es ging Hans Ruh ja nicht darum, die gegenwärtig übliche und auch rechtlich abgesicherte Erprobungspraxis ethisch zu rechtfertigen, sondern um die Aufforderung an den Menschen, sich mehr als bisher am Risiko der Medizinforschung zu beteiligen. Es ist also zu fragen, was unter ethi- schem Aspekt gegen eine solche Ausweitung spräche, solange das Risiko nicht höher ist als in anderen Berufen auch.
V. Wenn über Tests mit freiwilligen Versuchspersonen diskutiert wird, ist oft der Hinweis auf die –> Menschenwürde zu hören, die solche Versuche nicht erlaube. Wenn aber von Tierversuchen die Rede ist, kommt dieser Hinweis nur ausnahmsweise, etwa von Robert Spaemann (1979) oder von Christian Schütze (1985). Das hängt damit zusammen, daß die Menschenwürde im Regelfall als Konzept zur Begründung von Ansprüchen des Trägers dieser Würde gegen andere, die Gesellschaft oder den Staat verstanden wird, und nur ausnahmsweise als ein Kon- zept, aus dem sich für den Träger Pflichten ergeben könnten. In seiner erwähnten Stellungnahme schreibt Spaemann (1979): „Was macht die Würde des Menschen aus, die ihn über die Tiere erhebt? Was macht ihn zum Herrn der Schöpfung? Seine Fähigkeit, Dinge zu unterlassen, weil sie niedrig, widerwärtig und gemein sind, obwohl er sie ungestraft tun kann; seine Fähigkeit, für außermenschliche Wesen eine Fürsorge- pflicht zu übernehmen, seine Fähigkeit, das Schwache zu schützen. Tiere sind schwach. Wer sie quält, wird nie befürchten müssen, daß ihnen ein Rächer ersteht, der den Spieß eines Tages umdreht. Sie werden nie als Kläger auftreten, nie als Richter, nie als Wähler. Was heute an Millionen von Versuchstieren geschieht, muß aus dem einzigen Grunde verboten werden, weil es mit der Selbstachtung einer mensch- lichen Rechtsgemeinschaft unvereinbar ist.”
VI. Um die Zahl der Tierversuche zur Erprobung neuer Arzneimittel wenigstens fortschreitend einzuschränken, wurde zuerst seitens der Tierschutzverbände, dann aber auch von Wissenschaftlern und staat- lichen Stellen die gezielte Entwicklung alternativer Forschungsmetho- den verlangt und gefördert. Der Begriff „Alternativmethoden” ist zwar umstritten, weil gelegentlich der Anspruch erhoben wird, alle Tierversuche könnten durch solche Methoden ersetzt werden, aber er ist aus der Diskussion nicht mehr wegzudenken. Unter Alternativmethoden versteht man jede Maßnahme, die geeignet ist, Tierversuche zu ersetzen, zu verfeinern oder zu vermindern. Diese Definition geht auf eine Veröffentlichung von W. M. S. Russell und R. L. Burch „Principles of hu- mane experimental technique” (1959) zurück. Die Humanisierung der Versuchstechnik soll im Rahmen des Konzeptes der „Drei R” (Replacement, Reduction, Refinement) erreicht werden. Replacement als Ersatz bedeutet die Verwendung von empfindungsloser Materie anstelle von Tieren; als Reduction gilt jede Maßnahme zur Verminderung der Anzahl benötigter Tiere, und Refinement im Sinne von Verfeinerung steht für jede Versuchsänderung, die das Versuchstier weniger belastet. Demnach ist es also keine Alternativmethode, einzelne Tiere mehr oder mehrfach zu belasten, nur um die Zahl der „verbrauchten” Tiere zu senken.
Die Erforschung und Anwendung alternativer Methoden macht Fortschritte und wird auch intensiver als bisher durch private und staatliche Institutionen gefördert. Informationen werden erteilt durch die Stiftung Fonds für versuchstierfreie Forschung, Biberlinstr. 5, CH 8032 Zürich. Grundlegende Literatur: Dallas Pratt (1983), W. M. S. Russel und R. L. Burch (1959), H. D. Smyth (1982).
Weitere Literatur: H. Heimchen und R. Winau 1986