Barmherzigkeit

Barmherzigkeit ist eine Art des —› Wohlwollens, die dort gefordert wird, wo andere Tugenden, wie etwa die —* Nächstenliebe, nicht hinreichen, weil B. die Liebe des Überlegenen zum Unterlegenen ist, die auch dem geschenkt wird, der keinen Anspruch darauf hat. B. ist tätiges Wohlwollen aus der Fülle der Möglichkeit zu helfen. I. Nach der Bibel (-3 Biblische Tierschutzethik) ist B. zuerst eine Eigenschaft Gottes, der nicht nur die Güte, sondern auch die Macht hat, barmherzig zu sein. Gottes B. wird mit der Liebe eines Vaters verglichen (Ps 103, 13), die sich auf alle seine Geschöpfe erstreckt (Ps, 145, 9). Gott erbarmt sich der Stadt Ninive auch wegen der Tiere (Jon 4,11). Diese Eigenschaft Gottes soll sich der Mensch zum Vorbild nehmen, wenn er sich in der Position des Überlegenen befindet: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber der Gottlose ist unbarmherzig.” (Spr 12, 10).
Diese Linie wird auch im Neuen Testament verfolgt. Jesus radikalisiert die Nächstenliebe, indem er sie auf die Extremsituationen, wie
Feindesliebe (Mt 5, 44) und Geringstenliebe (Mt 25, 40), ausdehnt. Die schrankenlose B. ist ihm mehr und wichtiger als die zu seiner Zeit übliche
Nächstenliebe im engen Kreis. Sein Appell reicht weiter: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist” (Lk 6, 36).
In den Seligpreisungen der Bergpredigt ist von der Nächstenliebe nicht die Rede, sondern in Mt 5, 7 heißt es nur: „Selig sind die Barmherzigen,
denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.” II. Auch in der Theologiegeschichte ist die Tradition der artübergreifenden B. nie abgebrochen. So sagte Augustin in deutlicher Anlehnung an Ps 35, 7: „Denn weil du Gott bist, hast du ein vielfaches Erbarmen, eben diese Fülle deines Erbarmens erstreckt sich nicht bloß auf die Menschen, die du nach deinem Bilde erschaffen hast, sondern auch auf die Tiere, die du den Menschen unterworfen hast.” (Deutsch nach Reinhold Schneider 1961, S. 99). Thomas von Aquin behandelt die B. im Rahmen der 3o. Frage über das —Mitleid (S. th. 11-11), wobei Mitleid und Erbarmen meistens als ineinander übergehend dargestellt werden. Trotzdem gibt es Unterschiede: Gott ist barmherzig, weil er die Macht hat zu helfen. Der Mensch ist dem Übel gegenüber oft machtlos, darum bleiben ihm dann nur Mitleid und —> Solidarität. Im 4. Artikel „Ist das Mitleid die größte der Tugenden?” sagt Thomas: eine Tugend ist „um so wertvoller, als sie den Menschen Gott ähnlicher macht. Das aber tut am meisten das Erbarmen; denn von Gott heißt es beim Psalmisten ,Seine Erbarmungen erstrecken sich auf alle seine Werke’ (Ps 145, 9). Deshalb sagt auch der Herr (Lk 6, 36): ,Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.'” Die B. ist für Thomas sozusagen die zweitgrößte Tugend nach der Liebe. B. ist das tätige Werk der Liebe in bezug auf den, der Not leidet, insbesondere, wenn er unschuldig leidet, wie Thomas im 1. Artikel seiner Abhandlung betont. Durch die B. wird der Mensch Gott ähnlich und aktualisiert auf diese Weise die ihm eingepflanzte Fähigkeit zur Gottebenbildlichkeit, er wird zum Menschen, wie ihn Gott gewollt hat. An anderer Stelle (S. th. 114 102, 6 ad 8) äußert er den Gedanken, daß man sich durch Mitleid mit den Tieren in der B. üben könne (vgl. G. M. Teutsch 1987, S. 208). Diesem Gedanken entsprechend gab Harald Steffahn (1987) seinem Tierschutzbuch den Titel „Menschlichkeit beginnt beim Tier”. Unter Tierschutzaspekt faßt die Kurzformel von Gustav Wingen (198o, S. 232) das Wesentliche zusammen: „Die Barmherzigkeit Gottes (Jon 4, 11) und des Menschen (Spr 12, 10) richtet sich auch gegen Tiere.” Insofern ist B. auch die „Mutter” aller tierschutzethischen Konzepte auf christlicher Grundlage einschließlich –> Humanität und —> Gerechtigkeit. III. B. entsteht aus der Liebe, wenn sie zugleich helfend eingreift, und bedarf dabei der –> Empathie, um die Nöte des Hilfsbedürftigen wirklich zu verstehen, was im Blick auf die oft ganz anderen Bedürfnisse und Notsituationen eines Tieres besonders wichtig ist; vgl. auch die Stichworte —> Ethologie und —> Wohlbefinden. B. wird also von dem negativen Urteil, das oft mit dem Begriff „Mitleid” verbunden wird, nicht betroffen. Trotzdem ist die B. von Arthur Schopenhauer in seiner Polemik (Parerga und Paralipomena II, 15, § 177) gegen Bibel, Judentum und Christentum heftig angegriffen worden, weil er B. sozusagen als arrogante Herablassung verstand und statt dessen — Gerechtigkeit verlangte: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs. — ,Erbarmt!’ — welch ein Ausdruck! Man erbarmt sich eines Sünders, eines Missethäters, nicht aber eines unschuldigen treuen Thieres, welches oft der Ernährer seines Herrn ist und nichts davon hat als spärliches Futter. ‚Erbarmt!’ Nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit ist man dem Thiere schuldig — und bleibt sie meistens schuldig . . .” Schopenhauer hat übersehen, daß B. sich niemals selbst genügt, sondern von sich aus auf Gerechtigkeit drängt.

IV. In der Diskussion über —*Tierversuche wird gelegentlich den —>Tierschützern der Vorwurf gemacht, ihre 13. ziele nur auf das Tier und
lasse den Menschen unbeachtet. Hierzu kann man nur sagen, daß nicht nur die Ethik unteilbar ist (–> Unteilbarkeit der Ethik), sondern auch die
Humanität, die Gerechtigkeit und eben auch die B. Sie wendet sich allen Notleidenden zu ohne Ansehen der Person oder Art. Und wenn in Konfliktsituationen Prioritäten gesetzt werden müssen, dann erfolgen diese nach den gemäß –> Priorität der Pflichten III genannten Kriterien.

Literatur: Im Text erwähnt

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