Ehrfurcht vor dem Leben

Ehrfurcht vor dem Leben nennt Albert Schweitzer (1875-1965) seine Ethik, die er im Rahmen seiner 1923 erschienenen „Kultur und Ethik” auf dem Hintergrund der Enttäuschung über das enge und nur zwischenmenschliche Beziehungen beachtende ethische Denken seiner Zeit (–>Tierschutzethik) 1915 zu konzipieren begann (Werke 2, S. 363). 1919 hatte er seine Ethik bereits in zwei Predigten (Werke 5, S. 117-142) entwickelt, 1931 faßte er sie im Rahmen seines Berichtes „Aus meinem Leben und Denken” auf einigen Seiten (Werke 1, S. 169-172) zusammen, und in einem 1963 Hans Walter Bährübergebenen Aufsatz äußert er sich am Ende seines Lebens über „Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur” (Werke 5, 5.172-191). Aber auch sonst nimmt Schweitzer jede Gelegenheit wahr, an sein ethisches Anliegen zu erinnern, so insbesondere in seiner „Ansprache bei Entgegennahme des belgischen Joseph-Lemaire-Preises” (Werke 5, 5.16o-166), wo er die Frage stellte: „Wie soll man sich gegenüber der Schöpfung verhalten?”, ferner in den Aufsätzen „Humanität” (Werke 5, S. 167-171) und „Philosophie und Tierschutzbewegung” (Werke 5, 5.135-142) und schließlich in der Predigt über Spr. 12, 10 „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz des Gottlosen ist unbarmherzig” (Predigten, S. 35-51).

I. E. v. d. L. ist Philosophie, wenn man von seinem Axiom ausgeht „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will” (Werke 2, S. 377); sie ist aber zugleich auch Theologie, wenn man sie in seinem Sinne als „die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe . . .” versteht. Wie sein großes Vorbild Franziskus (Werke 5, 5.169 und 187) fühlt er sich aufgefordert, mit der auch dem Tier gegenüber gebotenen

–> Barmherzigkeit ernst zu machen, auch in den Mitgeschöpfen noch Ge- schwister (–> Brüderlichkeit) zu sehen (Predigten, S. 51), die, einbezogen in das Harren und Seufzen der Schöpfung, auch an der Erlösung teilha- ben sollen (Werke 5, S. 138, und Predigten, S. 37). So kann er (Werke V, 5.165) sagen: „Also ist unser Nächster nicht nur der Mensch. Unsere Nächsten sind alle Wesen. Deshalb glaube ich, daß der Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben unseren Gedanken der Humanität mehr Tiefe, mehr Größe und mehr Wirksamkeit verleiht.” Schweitzers E. v. d. L. ist Ausdruck einer universal aufgefaßten Ethik der –> Humanität, wie er sie schon bei Goethe gefunden hatte (vgl. C. Günzler 1984). Humanität wurde ihm der Maßstab seiner Ethik (Werke 2, S. 481). –> Nächstenliebe erreicht auch das Tier.

E. v. d. L. ist eine Ethik, die sich allem Leben in gleicher Weise verpflichtet fühlt. „Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, daß er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als daß er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht” (Werke 2, S. 378f.). Schweitzer gibt noch verschiedene Hinweise, wie sich E. v. d. L. auf unser Handeln auswirkt. Insbesondere beklagt er die —>Tierquälerei bei Tiertransporten und bei der —> Schlachtung (auch von Kleintieren in der Küche) (Werke 2, S. 389 f.) und lehnt das Töten als Schauspiel oder Sport (—> Tierquälerisches Brauchtum, —>Tierquälerischer Sport) ab, und zwar auch die —>Jagd, sofern sie zum Vergnügen wird (Predigten, S. 4.5f.). Daß er das Angeln als Sport ablehnt, geht aus seiner Jugendbiographie hervor (Werke i, S. 277f.) hervor. Auch zum —> Tierversuch hat sich Schweitzer (Werke 2, S. 389) kritisch, wenn auch nicht grundsätzlich ablehnend, geäußert.

Bei all diesen Forderungen vergißt Schweitzer nicht, wie schwer, ja wie unmöglich es ist, der Verantwortung für das Leben immer gerecht zu werden, weil der Mensch sowenig wie die Tiere leben kann, ohne zumindest pflanzliches Leben zu schädigen oder zu vernichten. Er sagt (Werkei, S. 1.71. f.): „Nun bietet die Welt aber das grausige Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben. Ein Dasein setzt sich auf Kosten des anderen durch, eines zerstört das andere. Nur in den denkenden Menschen ist der Wille zum Leben um anderen Willen zum Leben wissend geworden und will mit ihm solidarisch sein. Dies kann er aber nicht vollständig durchführen, weil auch der Mensch unter das rätselhafte und grausige Gesetz gestellt ist, auf Kosten anderen Lebens leben zu müssen und durch Vernichtung und Schädigung von Leben fort und fort schuldig zu werden. Als ethisches Wesen ringt er aber darum, dieser Notwendigkeit, wo er nur immer kann, zu entrinnen und als einer, der wissend und barmherzig geworden ist, die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufzuheben, soweit der Einfluß seines Daseins reicht. Er dürstet danach, Humanität bewähren zu dürfen und Erlösung von Leiden bringen zu müssen.”

In „Kultur und Ethik” (Werke2, S. 387) fragt er dann: „Wie behauptet sich die Ethik in der grausigen Notwendigkeit, der ich durch die Selbstentzweiung des Willens zum Leben unterworfen bin? Die gewöhnliche Ethik sucht Kompromisse. Sie will festlegen, wieviel ich von meinem Dasein und von meinem Glück dahingeben muß und wieviel ich auf Kosten des Daseins und Glücks anderen Lebens davon behalten darf. Mit diesen Entscheiden schafft sie eine angewandte, relative Ethik . . . Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut läßt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse. Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager. Immer von neuem und in immer originaler Weise setzt die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben sich im Menschen mit der Wirklich- keit auseinander. Sie tut die Konflikte nicht für ihn ab, sondern zwingt ihn, sich in jedem Falle selber zu entscheiden, inwieweit er ethisch blei- ben kann und inwieweit er sich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von Leben unterwerfen und damit Schuld auf sich nehmen muß.”

Da jedes —> Wertgefühl immer neu geweckt, jedes —> Wertbewußtsein immer neu geworben werden muß, während der gegenläufige Egois- mus immer wieder von allein entsteht, ist jede Ethik in Gefahr, im Laufe der Zeit abgeschliffen, formalisiert und verwässert zu werden. Schweitzer hat das auch für seine Ethik gesehen und insbesondere vor drei Gefahren gewarnt: vor der Abstumpfung (Werke 5, S.127-131), vor der Verdrängung (Werke 5, 5.132) und vor der Verzweiflung. Schweitzer will dagegen immun machen, indem er darauf abhebt, daß sich ein Handeln aus Gewissensgründen nicht am äußeren Erfolg orientieren kann: „… Mitleiden und Mithelfen ist für dich eine innere Notwendigkeit. Alles, das du tun kannst, wird in Anschauung dessen, was getan werden sollte, immer nur ein Tropfen statt eines Stromes sein; aber es gibt deinem Leben den einzigen Sinn, den es haben kann, und macht es wertvoll” (Werke 5, 5.133).

II. Schweitzers Ethik ist von den Philosophen und Theologen nur gelegentlich zur Kenntnis genommen worden, so beispielsweise von Karl Barth, der in seiner „Lehre von der Schöpfung” bei aller Ablehnung von Schweitzers Theologie dennoch dessen ethische Forderung nach „Verantwortung gegen alles, was lebt” unterstützt, indem er (1969, 5.397 ff.) schreibt: „Was ist zu dieser konkreten Forderung zu sagen? Sicher nicht das, daß sie ‚sentimental’ sei! Sie ist ja mit der Frage nach der Durchführbarkeit auch nur der darin angegebenen Anweisungen und erst recht mit der Frage nach ihren weiteren Konsequenzen und Anwendungen leicht zu kritisieren. Zu leicht! Die an Franz von Assisi erinnernde Unmittelbarkeit der Anschauung und Empfindung und die innere Nötigung, die daraus spricht, ist stärker als alle solche Kritik. Wer hier etwa nur zu lächeln wüßte, der wäre wohl selbst ein wenig beweinenswert. Wie rechtfertigt man sich eigentlich, wenn man es anders hält, als Schweitzer es hier von einem haben will? (. . .) Was man seiner Mitteilung zu entnehmen hat, ist ganz einfach der Aufschrei, der in alle in dieser Sache so erstaunliche menschliche Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit hinein zur Ordnung rufen will.”

Die philosophische Kritik an Schweitzers Ethik hat Helmut Groos (1974) zusammengetragen. In dieser Kritik spielt die Frage nach der Gleichwertigkeit alles Lebens eine entscheidende Rolle. Schweitzers Weigerung, eine unterschiedliche Bewertung der verschiedenen Stufen des Lebendigen, etwa nach Maßgabe der Empfindungsfähigkeit, ausdrücklich zu akzeptieren, ist immer wieder beanstandet worden. Claus Günzler hat sich (1986) zu dieser Kritik geäußert.

III. Schweitzer begründet seine Position, indem er auf die Gefahr hinweist, die daraus entstehen kann, wenn der Mensch anfängt, Wertunterschiede zu machen: „Wer von uns weiß, was das andere Lebewesen an sich und in dem Weltganzen für eine Bedeutung hat? Im Gefolge dieser Unterscheidung kommt dann die Ansicht auf, daß es wertloses Leben gäbe, dessen Schädigung und Vernichtung nichts auf sich habe. Unter wertlosem Leben werden dann, je nach den Umständen, Arten von Insekten oder primitive Völker verstanden” (Werke 1, S. 242).

Einmal angenommen, Schweitzer hätte sich in Anlehnung an die jeweils erreichte Organisationshöhe auf eine Wertstufigkeit der vielfälti- gen Lebensformen eingelassen; hätten wir als seine Nachfolger und mit deutscher Gründlichkeit nicht längst ein System entwickelt, das zuerst zwischen einfachem und höherem Leben unterscheidet, dann diese Unterschiede bewertet und dementsprechend eine Hierarchie des höchst-, mittel- und minderwertigen Lebens errichtet, die dem Men- schen als dem selbstverständlich höchstrangigen Wesen schließlich erlauben würde, alles geringerwertige Leben als verfügbares Mittel für eigene Zwecke anzusehen?

Sicher ist Schweitzers Position auch von den östlichen Religionen mit- bestimmt. Zwar lehnt er die negative Einstellung ab, wonach der Wille zum Leben als Ursache immer neuen Leidens gesehen wird, aber er übernimmt die Vorstellung von der Einheit und Unantastbarkeit alles Lebendigen, ohne daß die Frage der Beseelung oder Reinkarnation eine besondere Rolle für ihn spielt. Auch das Tötungsverbot übernimmt er nicht in seiner absoluten Strenge, sondern tritt dafür ein, auswegsloses Leiden der Tiere durch einen gnädigen Tod zu beenden: „Dem nicht zu behebenden Leiden eines Wesens durch barmherziges Töten ein Ende zu machen, ist ethischer, als davon Abstand zu nehmen” (Werke2, S. 502f.).

Damit wird auch die Feststellung korrigiert, daß alles Vernichten oder Schädigen böse sei, gleichgültig „unter welchen Umständen es auch erfolgen mag” (Werke2 , S . 387).

Dieses Töten aus Humanität unterscheidet sich von allen anderen Formen des unbewußten, des gedankenlosen, des in Kauf genomme- nen oder schließlich des bewußten Tötens, weil es ganz ausnahmsweise im -> Interesse des Tieres, aus -> Barmherzigkeit geschieht. In diesem ganz besonderen Falle setzt Schweitzer seine eigene Norm außer Kraft, daß „Leben vernichten böse sei” (Werke 2, S. 378). Schweitzer entscheidet sich letzten Endes für das -> Wohlbefindensprinzip und gegen das -> Lebenserhaltungsprinzip, mit anderen Worten, auch für Schweitzer hat die Humanität Vorrang vor der Erhaltung des Lebens, sie ist ihm das entscheidende Kriterium seiner -> Ethik: „Gelten lassen wir nur, was sich mit der Humanität verträgt” (Werke 2, S. 401).

Da wir keinerlei Anhaltspunkte dafür haben, daß Schweitzer die aktive Euthanasie auch in bezug auf den Menschen empfiehlt oder auch nur zuläßt, muß für seine Abweichung vom sonst so kompromißlos durchgehaltenen Tötungsverbot außer der Menschlichkeit noch ein anderer Grund vorliegen. Und daraus ergibt sich nun die entscheidende Frage: Warum hält er die aktive Euthanasie dem Tier gegenüber für geboten, dem Menschen gegenüber aber für unzulässig? Obwohl wir hierzu keine Aussage Schweitzers haben, kann der Grund doch nur in einem hierfür relevanten Unterschied zwischen Mensch und Tier liegen, auch wenn darüber noch nicht gründlich genug oder nur in theologischer Weise nachgedacht wurde.

Der Umstand, daß Schweitzer diese Ausnahme nicht nur duldet, son- dern ausdrücklich verlangt, bestätigt, daß er das Humanitätsgebot als übergeordnet ansieht und auch entsprechend ernst nimmt, auch die daraus resultierende Forderung nach — Gerechtigkeit (Werke 2, S. 401), wie sie sich im -> Gleichheitsgrundsatz manifestiert. So kommt er, wenn auch unausgesprochen, zu einer Pflicht der Gleichbehandlung, wo Gleichheit besteht, und zu einer Andersbehandlung, wo er eine An- dersartigkeit annimmt, wie eben im Fall der Bedeutung des Todes für das Tier, auch wenn er mit Sicherheit nie so weit gehen würde, wie Robert Spaemann (-> Lebenserhaltungsprinzip la).

IV. Schweitzers Ethik der E. v. d. L. orientiert sich an einem unerreichbaren -> Idealziel. Trotzdem trifft das –> Unmöglichkeitsargument auf seine Ethik nicht zu, denn sie verlangt ja nur, daß wir uns ernsthaft, d. h. auch unter Opfern und Verzichten darum bemühen, ihm so nahe kommen, wie nur irgendwie möglich. Auf diesem entbehrungsreichen Weg erlaubt er uns kein Ausruhen und zufriedenes Sitzenbleiben auf einer relativen Ethik (Werke 2, S. 387) zumutbarer Kompromisse. Eine auf die menschliche Schwäche abgestellte und insofern realistische Ethik, die uns ein gutes Gewissen attestieren könnte, lehnt er ab. Wer ihm daraus einen Vorwurf macht, müßte dann aus dem gleichen Grun-de der Unerreichbarkeit auch die Ethik der Bergpredigt oder andere an ethischen Utopien orientierte Konzepte ablehnen.

Schweitzers ethische Forderung läßt den Menschen nicht in Ruhe; rastlos treibt sie ihn weiter: „Wie die sich durch das Wasser wühlende Schraube das Schiff, so treibt die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben den Menschen an” (Werke 2, S. 38o). Auch Schweitzer selbst hat sich dem Druck seiner Ethik nicht entziehen können, sondern immer härtere For- derungen an sich gestellt. Obwohl er in seinen Schriften den Fleischge- nuß nie verurteilt, hat er im Verlauf seines Lebens, zumindest in Afrika, nur noch pflanzliche Nahrung zu sich genommen (—> Vegetarismus). Erst in einem Brief aus dem Jahre 1964 schreibt er: „Meine Ansicht ist, daß wir, die für die Schonung der Tiere eintreten, ganz dem Fleischgenuß entsagen, und auch gegen ihn reden.” (Zitiert mit Erlaubnis des Albert- Schweitzer-Archivs in Günsbach vom 11. 3. 1982.)

Weitere Literatur: Die nach der Ausgabe „Gesammelte Werke in fünf Bänden” zi- tierten Texte sind meistens auch in der Sammlung „Ehrfurcht vor dem Leben, Grundtexte aus fünf Jahrzehnten”, herausgegeben von H. W. Bähr (Beck’sche Schwarze Reihe Bd. 255) und im „Albert-Schweitzer-Lesebuch”, herausgegeben von Harald Steffahn (C. H. Beck, München, 2. Aufl. 1986) enthalten.

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