Güterabwägung

Güterabwägung ist nach Gustav Ermecke (1960) das Vergleichen mehrerer sich einer Entscheidung darbietenden Werte, um herauszufinden, welcher von ihnen unter Berücksichtigung aller seiner Determinanten nach dem Wertvorzugsgesetz („Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden”) zu wählen ist …” Es geht also um ethische Werte, die gegenüber nichtethischen Werten, wie z. B. ästhetischen, kulturellen, materiellen oder Prestigewerten, oft aber auch gegen andere ethische Werte abzuwägen sind. Um hier die richtige Entscheidung zu treffen, hat die Ethik gewisse Vorzugsregeln entwickelt; vgl. hierzu auch Priorität der Pflichten.

I. Bei jeder Abwägung können —> Konflikte auftreten, und zwar: (2) Wenn nichtethische Werte untereinander kollidieren; in solchen Fällen ist die Ethik nicht tangiert und steht daher auch einem Kompromiß nicht im Wege. (2) Konflikte entstehen ferner, wenn ethische mit nichtethischen Werten kollidieren, etwa wenn man auf materielle oder Prestigewerte verzichten soll, weil sie nur durch Verletzung ethischer Werte erreichbar sind. Unter ethischem Aspekt hat hier die Abwägung zugunsten des ethischen Wertes und ohne Kompromisse zu erfolgen. Eine Abweichung von dieser Regel wäre nur entschuldbar, wenn die in Kauf genommenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachteile so gravierend wären, daß dadurch für Leib und Leben eine ernste Gefahr entstünde. (3) Ethische Werte können aber auch untereinander in Konflikt geraten. Bei der Abwägung hat der jeweils höhere Wert Vorrang.

II. Die Prioritätsregeln der G. laufen oft auf die Suche nach dem „kleineren übel” hinaus, wenn einer der tangierten Werte nur zu Lasten des anderen zu verwirklichen ist. Die Abwägung ist trotzdem einfach, solange das „kleinere Übel” wirklich und erheblich kleiner ist, die Entscheidung wird aber um so schwieriger, je gleichgewichtiger die beiden Übel sind. Unbeschadet dieser Schwierigkeit muß jeder, der seine Entscheidung unter Berufung auf das „kleinere Übel” entschuldigen will (—> Rechtfertigung), überzeugend begründen, warum alle anderen möglichen und zumutbaren Entscheidungen qualitativ und quantitativ ein größeres Übel zur Folge haben würden. Mit anderen Worten, es muß belegt werden, daß alle moralisch unbedenklichen oder weniger gravierenden Lösungsmöglichkeiten versucht wurden und nichts erbracht haben oder mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts erbringen können. Hier ist immer auch die Frage des Nichthandelns und die Möglichkeit des Abwartens zu berücksichtigen. Wer sich ohne Not oder auch nur vorschnell zu einem „kleineren Übel” entschließt, macht sich über das unvermeidbare Maß hinaus schuldig. Bei der G. werden Werte untereinander in Relation gesetzt, und es könnte der Eindruck entstehen, daß dieses Verfahren immer in dieser Weise angewandt werden darf, solange dadurch ein jeweils größeres Übel verhindert werden kann. Daß es hier Grenzen geben muß, ist jedoch schon im Rahmen der Folgen-Abwägung (–> Utilitarismus II) festgestellt worden. Vgl. hierzu auch Robert Spaemann (1985/86, S. 32): „Bestimmte Handlungsweisen sind hingegen mit der —> Menschenwürde unvereinbar und daher jeder G. entzogen.” Auch die Frage der –> Zweck-Mittel-Relation ist zu bedenken.

III. Im Tierschutz sind Konflikte verschiedener Art besonders häufig und oft auch besonders schwierig, weil die—> Widerstände und Hemmnisse so groß sind. In der Amtlichen Begründung zum Tierschutzgesetz von 1972 wird im allgemeinen Teil ein solcher Konflikt direkt angesprochen, denn vom (damals) neuen Gesetz wurde erwartet, daß es die unterschiedlichen Forderungen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Ethik „in Einklang bringen” sollte. Dies ist in der Praxis gar nicht möglich; außerdem ist es gemäß Ziffer 1/2 oben ethisch höchst fragwürdig, weil der ethische Wert Vorrang vor kulturellen und materiellen Werten hat. Sowohl-als-auch-Lösungen dieser Art sind jedoch in der Politik üblich und wohl auch nicht zu vermeiden.

IV. Der Versuch, Annäherungen zustande zu bringen, ist immerhin besser, als sie erst gar nicht zu wollen oder anzustreben. Darum sollte sichergestellt werden, daß ethische Forderungen auch gegenüber den –> Notwendigkeiten von Wissenschaft und Wirtschaft ihr Eigengewicht behalten und eine Chance zur Durchsetzung haben. Die der Intention des deutschen und schweizerischen Gesetzes entsprechende Abwä- gungsrichtlinie hat inzwischen folgende weitgehend akzeptierte Formulierung gefunden: Ein Eingriff in das Wohlbefinden von Tieren ist um so strenger zu beurteilen, je gravierender er für die betroffenen Tiere ist und je belangloser oder doch verzichtbarer für den Menschen; umgekehrt muß aber auch gelten, daß ein Eingriff um so eher zu tolerieren ist, je geringfügiger er für die betroffenen Tiere und je notwendiger er im Interesse anderen Lebens ist.

Richtlinien dieser Art unterscheiden sich vom Kompromiß durch ihre trotz aller Realitätsnähe das Ziel weiter anstrebende Dynamik. Und wenn solche Richtlinien in Handlungsanweisungen oder Rechtsverordnungen umgesetzt werden sollen, ist es unzulässig, vom einzelnen Verhandlungspartner mit Rücksicht auf Sachzwänge irgendwelche Vorleistungen zu verlangen. Wenn also z. B. ein Ethiker, ein Ethologe und ein Wirtschaftsfachmann eine Lösung in der Nutztierhaltung suchen, so muß jeder seine Forderungen so vorlegen, wie sie aus der Sicht seiner Wissenschaft gestellt werden müssen. Jeder Appell, dabei mit Rücksicht auf die politische Durchsetzbarkeit von vornherein nur „Mindestanforderungen” zu stellen, ist unzulässig. Was dem Bürger schließlich an Vorteilen eingeräumt werden kann und was ihm an Verzichten auferlegt werden muß, ist eine Entscheidung des Gesetzgebers, zu der die verschiedenen Argumente nur Entscheidungshilfe geben können.

Weitere Literatur: J. Gründe11980, S. 189-198, 0. Hoffe 1981, S. 73, W. Korff 1982, K. Larenz 1979, S. 131 f.

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