Humanität

Aus dem lateinischen Wort humanitas sind im Laufe der Geistesgeschichte verschiedene Begriffe entstanden: (1) der Humanismus als Bezeichnung für eine historische Epoche und ihr Menschenbild, (2) der —> anthropozentrische Humanismus als Ausdruck der Selbstüberhebung des Menschen, und (3) die H. als Menschlichkeit und —> Solidarität gegenüber Mitmensch und Mitgeschöpf.

Unbeschadet dieser Differenzierung hat der Begriff H. seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ständig an Bedeutung gewonnen, so daß er nach Bernhard Stoeckle (1975, 5.147) „die eigentliche zentrale und maß- gebliche Sollensbestimmung menschlichen Verhaltens anzeigt, daß demzufolge auch kein ethischer Entwurf, kein gesellschaftspolitisches Programm, die auf Solidität halten, es sich leisten können, H. als ihr unmittelbares Anliegen nicht überzeugend darzustellen”. H. wurde zu einem frühere Gegensätze umfassenden Leitgedanken und hat dadurch im allgemeinen an Gewicht gewonnen, in der Begründung und in einigen Details aber notwendigerweise an Bestimmtheit verloren.

I. Der H.gedanke hat weit in die Vergangenheit zurückreichende Wurzeln, etwa die biblische —> Barmherzigkeit oder das – Mitleid bei den Pythagoreern. Neue Elemente kamen durch den historischen Humanismus hinzu, bis dann die entscheidende Wende im 18. und 19. Jahrhundert eintrat, als in der zeitlichen Überschneidung von Aufklärung und Pietismus Elemente beider Strömungen die H. in einem wichtigen Punkt bereichert haben. Das erwachende Interesse an der Natur und die Naturfrömmigkeit des Pietismus ebneten den Weg für eine H., die weiter reichte als traditionelle —> Nächstenliebe und das Mitgeschöpf liebend mitbedachte.

Angefangen hatte es mit der sich verschärfenden Kritik an Descartes, der mit seiner Theorie vom seelenlosen Maschinenwesen der Tiere den letzten und entscheidenden Schritt zum Dualismus zwischen Mensch und übriger Schöpfung unternommen hatte. Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) und Georg Friedrich Meier (1718-1777) bauten eine Gegenposition auf. Sie stellten die Schöpfung als eine in sich vollkommene Einheit dar, in der man auch den Wurm noch als Teil der Schöpfungsherrlichkeit erkennen konnte. Wie der —> anthropozentrische Humanismus, so geht auch die H. von der unbestrittenen —> Sonderstellung des Menschen aus, aber sie folgert daraus keine Verfügungsmacht über Un- terlegene, sondern Fürsorge gegenüber Schutzbefohlenen. Aus der Sonderstellung, die doch auf der Vernunft und Moralfähigkeit beruht, abzuleiten, daß der Mensch das Recht habe, unterlegene, aber dennoch sensitive Mitgeschöpfe für seine Zwecke auszubeuten, ist noch anthropozentrisch-humanistisch gedacht, aber niemals human. Auch die —> kantische Position ist in diesem Zusammenhang zu beachten.

H. als intervenierende —> Solidarität mit den Rechtlosen und Hilflosen ist ein Gedanke, der von Theologie und Philosophie gleichermaßen gefördert wurde und in der Erweiterung des Humanitätsbegriffes deutlich zum Ausdruck kommt. Nach Anton Neuhäusler (1963, S. 21) ist H. nämlich nicht nur im Sinne von Humanismus zu verstehen, sondern sie ist auch „Menschlichkeit als jene fühlende Bezogenheit zum Mitmenschen und Mitgeschöpf, die mitleidend und mitfreuend versucht, fremdes Leid zu verhüten und zu vermindern, fremdes Wohlergehen und Glück zu vermehren. Human sein heißt: Rücksicht nehmen, teilnehmen, helfen. In diesem Sinn ist Menschlichkeit das eigentlich Neue, andere ge- genüber stumpfer Rücksichtslosigkeit in der Natur — mag es in dieser auch instinktive Formen gegenseitiger Hilfe geben.” Vgl. auch G. M. Teutsch (1979a).

Gelegentlich werden die beiden Bedeutungen zusammengezogen zu der Forderung nach „Entfaltung menschlicher Kultur und Gesittung und dementsprechendem Verhalten gegenüber den Mitmenschen, ja aller Kreatur” (Georgi Schischkoff 1982, S. 292). Nach dem großen Brockhaus (Ausgabe 1971) gilt das Gebot der Menschlichkeit nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich, sondern wird auf alle Lebewesen übertragen: „Auch diesen gegenüber ist ein ‚menschliches’ oder ‚unmenschliches’ Verhalten möglich.”

In der englischen Sprache ist eine ähnliche Entwicklung erkennbar. Seit dem 17. Jahrhundert wird zwischen den beiden Worten „human” und „humane” immer deutlicher unterschieden, wobei das Adjektiv „human” die Summe aller menschlichen Eigenschaften, auch der negativen und „allzumenschlichen”, bezeichnet, während das Adjektiv „humane” vorwiegend zur Beschreibung der angestrebten positiven Eigenschaften verwendet wird; vgl. hierzu die Encyclopaedia Britannica, Ausgabe 1968, Stichwort „Humane Societies”.

In der Ethik hat diese Bedeutungserweiterung nur gelegentlichen Ausdruck gefunden, so in der Ethik des dänischen Bischofs Hans Lassen Martensen, der (1866, S. 333) forderte: „Der Mensch muß die Natur mit Humanität behandeln, das heißt, in der Weise, welche mit der eigenen Würde des Menschen . . . übereinstimmt.” Auf diesen Zusammenhang zwischen H. und —> Menschenwürde wird immer wieder hingewiesen; vgl. hierzu auch Hans Lenk (1983, S. 14) und G. M. Teutsch (1983b, S. 44).

II. In Albert Schweitzers Ethik der —> Ehrfurcht vor dem Leben spielt der H.gedanke eine wichtige Rolle, und ebendieses Fortschreiten von der früher nur zwischenmenschlichen zur alles Leben umfassenden H. bezeichnet er als ein „bedeutungsvolles Ereignis in der Geistesgeschichte” (Werke 5, 5.170); vgl. hierzu auch Ija Pawlowska (1980).

H. ist ein bisher nicht genügend beachtetes Schlüsselwort bei Schweitzer. Im 21. Kapitel seiner „Kultur und Ethik” (Werke 2, S. 401) nennt er ausdrücklich die H. als Maßstab seiner Ethik: „Gelten lassen wir nur, was sich mit der Humanität verträgt.” Ehrfurcht vor dem Leben ist ihm die Ethik der Menschlichkeit, die das Gebot der Liebe auf alles Lebende ausdehnt: „die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu” (Werke 1, S. 241).

H. als zwischenmenschliches Fühlen und Verhalten ist ihm nur der Anfang. Aber so wie der Apostel des Liebeshymnus (1. Kor 13) dann im 8. Kapitel seines Römerbriefes die ganze leidende Schöpfung der Erlösung durch Christus versichert (—> Biblische Tierschutzethik), so sieht sich auch Schweitzer genötigt, das dem Menschen gegebene Liebesgebot auszudehnen auf alles, was lebt. Das ist überhaupt sein frühester ethischer Gedanke, den er in seiner Jugendbiographie „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit” (Werke 1, S. 275) beschreibt: „Ganz unfaßbar erschien mir – dies war schon, ehe ich in die Schule ging -, daß ich in meinem Abendgebet nur für Menschen beten sollte. Darum, wenn meine Mutter mit mir gebetet und mir den Gutenachtkuß gegeben hatte, betete ich heimlich noch ein von mir selbst verfaßtes Zusatzgebet für alle lebendigen Wesen. Es lautete: ,Lieber Gott! Schütze und segne alles, was Odem hat, bewahre es vor allem Übel und laß es ruhig schlafen!'” Schweitzer hat diese Passage mit den gleichen Worten auch an den An- fang seines erst 1963 abgefaßten Rückblickes auf die Entstehung seiner Ethik (Werke 5, S. 172) gestellt und sich dann (S. 173) auch zum Tierschutz geäußert: „Das Aufkommen der Bewegung des Tierschutzes, das in meiner Jugend stattfand, machte mir einen großen Eindruck. Endlich wagten es Menschen, in der Öffentlichkeit aufzutreten und zu verkündigen, daß das Mitleid mit den Tieren etwas Natürliches sei, das zur wahren Menschlichkeit gehöre, und daß man sich dieser Erkenntnis nicht verschließen dürfe.”

So ist es nur konsequent, wenn er in seinem 1961 verfaßten Aufsatz „Humanität” (Werke 5, S. 167-171) sehr zielstrebig die Grenzen der traditionellen Nächstenliebe durchbricht und fragt, „ob unser Mitempfin- den es nur mit den Mitmenschen oder nicht auch mit allen Geschöpfen zu tun hat. Deren Dasein ist wie das unsere. Sie ängstigen sich wie wir, sie leiden wie wir. Sterben ist ihnen beschieden wie uns.

Wie brachten die Menschen es fertig, ihnen ihr Mitfühlen und Helfen zu versagen? Als sie schon das Humanitätsideal anerkannten, verblie- ben sie dennoch in der alten naiven Anschauung, daß der Mensch Herr der Schöpfung sei und mit den anderen Lebewesen teilnahmslos und gefühllos nach Belieben verfahren könnte. Einen gab es, im Mittelalter, der eine andere Stellung zu ihnen einnahm. Es war Franziskus von Assisi (1182-1226), der Gründer des Franziskanerordens. Für ihn waren die Tiere Mitgeschöpfe, mit denen er sich ohne Worte unterhielt und ihnen Liebe entgegenbrachte. Aber die Menschen seiner Zeit, wie auch noch die von aufeinanderfolgenden Generationen, ließen sich durch ihn nicht bewegen, über ihr Verhalten zur Kreatur nachdenklich zu werden . . . Aber die Wahrheit, daß der Mensch sich nicht als Herr, sondern als Bruder der Geschöpfe anzusehen habe, ließ sich auf die Dauer nicht aufhalten . . . Daß wir damit von der unvollständigen zur vollständigen Humanitätsgesinnung fortschreiten und der naiven Unmenschlichkeit, in der wir noch befangen waren, entsagen, ist ein bedeutungsvolles Ereignis in der Geistesgeschichte der Menschheit.”

III. Erst in der modernen Ethik hat man angefangen, die Forderungen der artübergreifenden H. zu übernehmen. H. wurde insbesondere die Leitlinie des Tierschutzes; das wurde bei den Beratungen zum Gesetz von 1972 besonders deutlich. Am 12.10.1966 sagte der Abgeordnete Büttner (Fritz Erler zitierend): „Wie in einem Volke die Menschen miteinander und wie sie mit den Tieren umgehen, ob sie bereit sind, Menschen und Tiere, unsere Mitgeschöpfe, vor Grausamkeiten und Leiden zu bewahren, das ist Ausdruck der Humanität und der Kulturstufe eines Volkes.” In der gleichen Sitzung nannte der Abgeordnete Dr. Rutschleeden Tierschutz den „Probierstein für die Echtheit und Wahrhaf- tigkeit menschlichen Gefühls und inneren menschlichen Wertes”. Ähnlich äußerte sich am 29.9. 1971 auch der Abgeordnete Spillecke: „Das Maß an Sorge, welches wir unseren Mitgeschöpfen, den Tieren, widmen, um sie vor Grausamkeiten und Leiden zu bewahren, ist zugleich Ausdruck unseres Selbstverständnisses von Humanität. Dieses Maß an Sorge ist immer auch ein Gradmesser für die Kultur eines Volkes.” Auch anläßlich der 2. und 3. Lesung am 21. 6.1972 wurde dieser Gedanke ausgesprochen, und zwar durch den Abgeordneten Löffler: „. . . niemand wird bestreiten können, daß die humane Qualität der Beziehungen in unserer Gesellschaft auch daran abzulesen ist, welches Verhältnis die Menschen dieser Gesellschaft zum Tier gefunden haben.”

Auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist die Entwicklung ähnlich verlaufen, sie wurde nur schon viel früher einen Schritt weiter vorangetrieben. Das Wohl der Tiere in die Forderungen der H. einzubeziehen, genügt nicht, solange daraus nicht eine ernstgenommen Pflicht zu artübergreifender —> Gerechtigkeit wird. So verlangt Jeremy Bentham 1780 nicht nur, sich der leidenden Tiere anzunehmen, sondern fordert die Befreiung der Tiereaus ungerechter Ausbeutung. Vgl. hierzu auch den Artikel von A. Leffingwell „An Ethical Basis for Humanity to Animals” (1894), wo der Autor die Anwendung der —> Goldenen Regel auch in bezug auf die Tiere verlangt.

Die Radikalisierung der H., die den überkommenen —> Artegoismus des Menschen zugunsten der Mitlebewesen überwinden soll, ist dann erreicht, wenn der Mensch seine bisherige Willkürbehandlung durch Gerechtigkeit ersetzt hat. Die traditionellen Verhältnisse einfach auf den Kopf zu stellen und dem Tier einen Vorrang vor dem Menschen einzuräumen, kann nicht das Ziel sein. Es geht also nicht darum, altes Unrecht durch neues zu „kompensieren”, sondern um die Forderung, Menschen und Tieren sowohl in ihren gemeinsamen als auch in ihren ganz unterschiedlichen —> Interessen gerecht zu werden.

IV. Das Konzept der artübergreifenden H. ist von den Befürwortern der Tierversuchelange abgelehnt worden, weil sie bis in die sechziger Jahre H. als ausschließlich zwischenmenschliche Tugend verstanden wissen wollten. Sie sprachen zwar von H., aber nach Hubert Bretschneider (1963, S.133, Fußnote 482) „im wirklichen Sinne des Wortes und nicht im Sinne der Antivivisektionisten, deren so viel berufene ,Humanität’ sich mehr auf das Tier als auf den Menschen bezog —> menschenfeindlicher Tierschutz’! Rudolf von Iheringäußerte sich hierzu folgender- maßen: ,Das Mitleid mit dem Tiere, das sich in jenen Angriffen (gegen die wissenschaftlichen Tierversuche) bekundet, ist in Wirklichkeit Rücksichtslosigkeit gegen den Menschen, eine Verirrung des sittlichen Gefühls, die den Menschen opfert, um das Tier zu schonen’ . . .” Vgl. hierzu auch —> Tierfreund-Menschenfeind-Komplex.

Auch heute gibt es noch Hemmungen, etwa eine humane Behandlung der Tiere zu fordern, und wenn es dennoch geschieht, wird das Wort human oft in Anführungszeichen gesetzt, so als ob man sich für einen Mißbrauch entschuldigen wollte. Es wird also an einem längst überholten anthropozentrischen Humanitätsbegriff festgehalten, damit man den Verzicht auf Tierversuche als Inhumanität gegenüber dem leidenden Menschen moralisch verurteilen kann.

Inzwischen hat sich auch bei den Befürwortern der Tierversuche die Einsicht durchgesetzt, daß der Biomediziner bei aller Verantwortung für den leidenden Menschen auch dem Versuchstier zu rücksichtsvoller Menschlichkeit verpflichtet ist, daß man Menschlichkeit gegen den Mitmenschen nicht konfliktlos mit Unmenschlichkeit gegen die Tiere er- kaufen kann. Der –> Unteilbarkeit der Ethik entspricht eine Unteilbarkeit der H.

V. Das Bemühen, in die Diskussion über die ethische Zulässigkeit der Tierversuche ein Humanitätsargument einzuführen, das den Verzicht auf solche Versuche als unmenschlich (gegenüber dem Menschen) bezeichnet, ist heute nicht mehr möglich, weil die inzwischen erfolgte Ausweitung des H.begriffes auf das leidensfähige Mitgeschöpf nicht mehr rückgängig zu machen ist. Tierversuche sind nur mit anthropozentrischem Humanismus, aber nicht mit H. zu begründen.

Literatur: Im Text erwähnt.

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