Kohärenz

Kohärenz ist ein Begriff, der in der ethischen Diskussion zwar selten gebraucht wird, neuerdings aber bei Tom Regan (1983, S. 131f.) als „consistency” und mehr allgemein bei Hans Ruh (1985, S. 13) am konkreten Beispiel auftaucht. Dabei wird unterstellt, daß ein ethisches Konzept in sich konsequent sein muß und Ausnahmen oder Abweichungen nur zuläßt, wenn ausreichende Gründe vorliegen. Selbst derjenige, der sich auf kein Konzept festgelegt hat und seine Werturteile (-> Werturteil und Sachverhalt)von Fall zu Fall abgibt, darf sich – sofern er Glaubwürdigkeit beansprucht – nicht widersprechen, indem er gleiche oder ähnliche Sachverhalte willkürlich unterschiedlich beurteilt.

Die K.forderung spielt in der Tierschutzdiskussion eine wichtige Rolle. Insbesondere werden immer wieder Rückfragen gestellt, die entweder die Inkohärenz einer ethischen Position bloßlegen oder zu mehr K. führen sollen. Dabei können die vorgebrachten Forderungen auch erheblich überzogen werden.

I. Zur Abwehr tierversuchsfeindlicher Tendenzen hat die National Society for Medical Research in den Vereinigten Staaten allen grundsätzlichen Tierversuchsgegnern nahegelegt, im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit eine von ihr formulierte Erklärung zu unterschreiben, . . etwa im Falle der Erkrankung an Diabetes weder für sich noch für seine Kinder eine Insulinbehandlung zuzulassen, bei Erkrankung an perniziöser Anämie kein Leberpräparat einzunehmen, keine Blutspende zu dulden, bei Operationen keine Betäubung vornehmen zu lassen, keine Operationen an Herz, Lunge, Blutgefäßen, Gehirn und Baucheingeweiden an sich selbst zu gestatten. Alle diese und viele andere Eingriffe nämlich sind erst mit Hilfe des so leidenschaftlich bekämpften Tierexperiments möglich geworden.” Vgl. Wolfgang Bargmann (1952, S. 839f.). Das Ansinnen ist in dieser schroffen Form neuerdings nicht mehr wiederholt worden.

Diese Konsequenzforderung ist erheblich überzogen. Sie würde nämlich, sofern ein Patient oder der Vater eines kranken Kindes die Zustimmung zu den genannten Eingriffen verweigern sollte, den behandelnden Arzt in große Schwierigkeiten bringen. Außerdem ist das Ansinnen willkürlich und daher ungerecht, weil es in keinem anderen vergleichbaren Fall gestellt wird: Von keinem Kriegsdienstverweigerer ist jemals verlangt worden, auf alle Erfindungen zu verzichten, die in Verbindung mit Kriegen gemacht wurden.

Es gibt jedoch Konsequenzforderungen, die der Tierversuchsgegner akzeptieren muß, denn wer Tierschützer geworden ist, muß auch sein persönliches Leben entsprechend ändern. Vom radikalen Tierversuchsgegner, der auch das Arbeiten mit Organen schmerzlos getöteter Tiere ablehnt, ist jedenfalls eine strikt vegetarische Lebensweise zu fordern. Er kann dann allerdings seinerseits den Ausbau der tierversuchsfreien Medizin verlangen, weil er ja wie jeder Bürger Anspruch auf medizinische Versorgung hat. Auch der Wehrdienstverweigerer wird vom Schutz durch Bundeswehr und Verbündete nicht ausgeschlossen.

II. Ein anderer Vorhalt wird den Tierschützern in bezug auf den Schutz des ungeborenen Lebens (§218 StGB) gemacht, wie z. B. von Minister Weiser (Baden-Württemberg) in der 545. Sitzung des Deutschen Bundesrates am 20. 12. 1984 (Protokoll S. 578): „Ich sage Ihnen abschließend eines, Herr Kollege Clauß: Die Argumentation im Rahmen des Tierschutzes wäre glaubwürdiger, wenn Sie mit mir gemeinsam nachdrücklich für den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens einträten.”

Diese Bemerkung ist durchaus berechtigt, weil sich die Tierschützer bei ihren Forderungen auf die —> Unteilbarkeit der Ethik und die daraus ableitbaren Konzepte wie etwa —> Gerechtigkeit oder —> Humanität berufen und nun den Menschen doch nicht ausschließen können und wol- len. Sie können sich also weder dem Appell zugunsten des ungeborenen Lebens noch dem Anliegen des Kinderschutzes entziehen. Aber wenn es richtig ist, den Tierfreund nach dem Menschen zu fragen, dann muß sich der Menschenfreund nach seinem Verhältnis zum Tier fragen lassen. Andererseits ist im Bereich gemeinnütziger Tätigkeiten die Aufgabenverteilung selbstverständlich und sinnvoll. Keiner Museumsgesellschaft ist je vorgeworfen worden, daß sie sich nur um alte Kunst und nicht auch um alte Menschen kümmert. Auch vom Entwicklungshelfer erwartet man nicht, daß er sich für Ausländerkinder bei uns einsetzt.

III. Auch in einem weiteren Fall muß der Tierschützer der an ihn gerichteten K.forderung entsprechen. Er kann sich nicht für seine Lieblingstiere einsetzen und alle anderen ihrem Schicksal überlassen, und er kann schon gar nicht die natürlichen Feinde seiner Lieblinge mit seinen überlegenen Mitteln bekämpfen, wie es gelegentlich von einigen Vogelfreunden gegenüber Katzen praktiziert wird. Noch fragwürdiger wird der Tierschutz, wenn er sich nur auf das persönliche Haustier beschränkt. —> Tierliebe muß sich sehr kritisch auf ihre Motivation und Reichweite befragen lassen und hat dann in manchen Fällen überhaupt nichts mit —> Tierschutz zu tun. Die —> Unteilbarkeit der Ethik muß mit ihren Forderungen allen Tieren zugute kommen. Manche Befürworter des Status quo im –> Tierschutz verlangen jedoch, der konsequente Tierschützer dürfe überhaupt kein Tier schädigen oder töten; so z. B. H. H. Sedlacek (–> Gleichheitsgrundsatz VI.).

IV. Ein anderer Vorwurf der Inkohärenz kann sowohl an die Gegner als auch an die Befürworter der Tierversuche gerichtet werden. Es ist der Vorwurf der Einseitigkeit. Gegen den Tierschutz wird er gerichtet, weil dieser die —> Tierversuche unverhältnismäßig oft und massiv angreift, gegen die Medizin wird er erhoben, weil innerhalb der Medizin die Erforschung neuer oder besserer Therapiemöglichkeiten überbewertet wird. Mit anderen Worten: die Medizinforschung stürzt sich mit großem Eifer auf alle noch ungelösten Fragen, aber die optimale Auswertung und Anwendung der bereits gefundenen Antworten zur Eindämmung der „Massenkiller” (Hans Schaefer 1979, S. 125) erscheint weniger wichtig. Die Antwort der Pharmakologen, daß man der Arzneimittelforschung die Versäumnisse der Präventivmedizin nicht anlasten könne, liefert auch das Muster für die Antwort der Tierversuchsgegner, die ja auch nur „ihre Arbeit tun” und nicht dafür verantwortlich sind, daß die Verbände gegen Massentierhaltung oder andere Mißstände in der Öffentlichkeit weniger unterstützt werden; vgl. hierzu auch –> Tierversuche V.

V. K. wird mit Recht auch vom Gesetzgeber erwartet. Denn selbst wenn er nur einen sehr anspruchslosen Tierschutz verfolgt, sollte die- ser in sich kohärent sein, d. h. wenn die Ausnahmen von der Norm des dem Leben und –> Wohlbefinden der Tiere zu dienen, nach dem Konzept des –> vernünftigen Grundes geregelt werden, dann muß er der Richtlinie folgen, daß Eingriffe in Leben und Wohlbefinden der Tiere um so entschiedener begrenzt werden müssen, je trivialer die damit angestrebten Zwecke sind. Unter diesem Aspekt ist es ein unentschuldbares Versäumnis, daß die Forderung der Kirchen (–> Kirche und Tierschutz V/1) nach Einschränkung des Tötens und Quälens im Bereich —> Luxus und Freizeitvergnügen anläßlich der Tierschutznovelle 1986 auch nicht andeutungsweise berücksichtigt wurde.

VI. Endlich sollte aber auch der Bürger darüber nachdenken, wie er einerseits größtmögliche Sicherheit für Gesundheit und Leben verlangen kann, zugleich aber das Recht beanspruchen will, diese gleiche Sicherheit aus Lust und Laune, also durch falsche Ernährung, Genußmittelmißbrauch oder andere risikoreiche Gewohnheiten, zu gefährden.

Literatur: Im Text erwähnt.

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