Leiden, Leidensfähigkeit

Wer wie Reinhold Schneider (1961) vom „Leiden der Kreatur” spricht, meint alle möglichen Formen der L., körperliche und seelische. L. ist aber auch ein eigenständiger Begriff des Tierschutzgesetzes — wie Albert Lorz (1979, S. 80) betont —, der ausschließlich auf seelische Belastungen angewandt wird; nur von dieser Form des seelischen L. ist hier die Rede. L. setzt L.fähigkeit voraus, wie sie bei Mensch und Tier in ähnlicher Weise (-> Emotionalität) angenommen wird. Der Begriff L. mußte eingeführt werden, sobald man erkannt hat- te, daß Tiere nicht nur körperlichen -> Schmerz, sondern auch seelische L. empfinden können. Das Freisein von L. ist demnach ein ebenso wich- tiges Erfordernis des -> Wohlbefindens eines Tieres wie das Freisein von Schmerz. L. und Schmerzen sind zwei verschiedene Formen beeinträchtigten Wohlbefindens und werden daher im -> Wohlbefindensprinzip zusammengefaßt. Im allgemeinen wird die Meinung vertreten, daß die Tiere zwar vor L., aber nicht vor jeder Wohlbefindensminderung zu schützen seien (vgl. A. F. Goetschel 1986, S. 46). Muß man demgegenüber aber nicht daran festhalten, daß man Wohlbefinden nicht definieren kann, ohne auf das Freisein von Schmerzen, Leiden oder Schäden zu verweisen?

I. L. zu definieren ist schwierig. Die Formulierung von Albert Lorz (1979, S. 80), wonach L. die vom Schmerz „nicht erfaßten Unlustgefühle” meint, klärt nur die Abgrenzung gegenüber dem Schmerz und wird daher noch ausführlich ergänzt (5. f.). Zusammenfassend könnte man etwa sagen: L. sind durch Intensität und/oder Dauer einer oder mehrerer Einwirkung(en) gesteigerte Unlustgefühle, die – obwohl nicht schmerzhaft – zu unerträglicher Qual werden und dann auch mit zusätzlichem körperlichem Schmerz und organischen Störungen verbunden sein und schließlich sogar den Tod herbeiführen können. Solche Fälle kommen immer wieder vor. So sterben jährlich mehrere hunderttausend streßgeplagter Schweine auf dem Transport ins Schlachthaus. Als Einwirkungen, die solche Folgen haben, kommen insbesondere in Frage: alle Veränderungen der Lebensumstände, die das artgemäße Ver- halten einschränken oder unmöglich machen, wobei das L. um so gravierender ist, je totaler die Einschränkung erfolgt, je länger sie andauert und je zwanghafter die unterdrückten Verhaltensweisen im Tier angelegt sind. Weitere Beispiele möglicher L.verursachung, auch weniger gravierende, werden von A. Lorz (1979, S. 82) erwähnt.

II. Bei vielen L.zuständen spielt die Angst eine wichtige Rolle. Sie kann unmittelbarer Anlaß des L.sein, z. B. wenn ein Beutetier an der Flucht vor seinem Freßfeind gehindert wird. So kann es vorkommen, daß ein Wildhase in einen eingezäunten Krautgarten gerät, dort von einem Menschen (der ja auch sein „Freßfeind” ist) überrascht wird und in eine für ihn auswegslose Situation und entsprechende Panik gerät. Die Panik kann dann zu einem Kollaps oder bei entsprechenden räumlichen Umständen auch zu einem Genickbruch führen, wenn ein versuchter Fluchtsprung an einer festen Umgrenzung endet. Angst hatte ursprünglich eine arterhaltende Funktion, weil sie vor ungewohnten oder erfahrungsgemäß gefährlichen Situationen warnt und im Eintretensfall zu besonderer Vorsicht nötigt. Über die Bedeutung der Angst bei Tieren und für den Tierschutz haben insbesondere drei schweizerische Wissenschaftler gearbeitet: Heini Hediger (1959), Monika Meyer-Holzapfel (1980) und Eugen Seiferle (1952). Diesen Untersuchungen ist es zu danken, daß es im Tierschutzgesetz der Schweiz in Art. 2 Abs. 3 heißt: „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es in Angst versetzen.” Vgl. hierzu auch A. F.. Goetschel (1986, S. 36f.).

III. Ein wichtiges und immer noch strittiges Problem ist die Feststellung von L. L.zustände können je nach den Umständen auch längere Zeit andauern, ohne daß der Tierarzt irgendwelche körperlichen Krankheitssymptome feststellen kann. Erste Anzeichen von L. kann nur die —> Ethologieaufgrund jeweils typischer V erhaltensstörungen feststellen, und erst in den siebziger Jahren hat man angefangen, auch physiologisch feststellbare Auswirkungen von L.zuständen, insbesondere bestimmten Streßsituationen, zu erforschen. Dabei sollte unbedingt vermieden werden, die mühsame und schwierige Beobachtung des Verhaltens zu vernachlässigen oder als zweitrangig anzusehen, nur weil physiologische Daten leichter zu erheben, zu messen und zu vergleichen sind. Es könnte sonst üblich werden, L. nur noch da anzunehmen, wo physiologisch meßbare und als relevant anerkannte Veränderungen nachweisbar sind, d. h. das Erkennen eines L.zustandes würde davon abhängig sein, ob bestimmte physiologische Befunde vorliegen, obwohl alle Beteiligten wissen, daß die Meßbarmachung von L.indikatoren noch ganz in den Anfängen steckt und man noch nicht einmal erwarten kann, auf diese Weise jemals ein ausreichendes Instrumentarium der L.messung zu erarbeiten. Nicht einmal in der Erfassung der doch viel einfacheren Schmerzsymptome ist man bisher zu einem be- friedigenden Ergebnis gelangt.

Da die Tierschutzgesetze der Bundesrepublik und der Schweiz auf der als gesichert geltenden Annahme einer dem Menschen analogen L.fähigkeit der Tiere beruhen, muß nicht das L. begründet werden, sondern vielmehr ein etwaiger Versuch, solches L. anzuzweifeln; vgl. Beweislast II.

Gelegentlich kann eine Differenzierung der Sachverhalte eine weitere Klärung bringen, etwa wenn B. Tschanz (1985, S. 43 f.) den objektiv feststellbaren Bedarf eines Tieres vom subjektiv gefühlten Bedürfnis trennt, das wir zwar mit Hilfe des —> Analogieschlusses mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen müssen, aber nicht beweisen können.

IV. Für den Tierschutz ist die Frage nach dem L. insofern wichtig, als von einer befriedigenden Antwort auch die Maßnahmen zur Verbesse- rung der Nutztierhaltung und der Tierhaltung ganz allgemein, also auch der Haltung von —> Heim-und Hobbytieren sowie der —> Zoo-und Zirkustiere abhängen. Andererseits besteht kein Grund, der L.feststellung ein zu hohes Gewicht beizumessen, weil verhaltensgerechte und artgemäße Haltung sowieso vorgeschrieben ist.

Weitere Literatur: M. S. Dawkins 1986, H. Hediger 1976, D. Ploog 1980, H. H. Sambraus 1981 b, G. Schikora 1981, D. E. Zimmer 1983, S. 70-85.

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