Für die —> Tierschutzethik ist die M-T-B. in verschiedenerlei Hinsicht bedeutsam:
I. Geschichtlich kann die M-T-B. bis in die Sammler- und Jägerzeit zurückverfolgt werden. Die Jäger lebten von erbeuteten Tieren, denen zugleich ihr Kult galt: zur Sicherung des Jagdglücks wie zur Entsühnung der Schuld, die der jagende Mensch mit der Tötung des Tieres begeht.
In geschichtlicher Zeit sind indische, ägyptische und jüdische Traditionen wirksam. Zur indischen Überlieferung hat sich insbesondere J. Gonda (1967, 105 f.) geäußert: „Wie ohne Zweifel auch der Volksglaube, sah die alte indische Literatur in der ganzen Natur ein ungeheures Reich des Lebens . . . Der Mensch erkennt im Tier einerseits etwas Ver- wandtes und Vertrautes, andererseits etwas Fremdartiges, Unheimliches oder sogar Übergewaltiges.
Wichtigster Beitrag der indischen Geistesgeschichte ist aber die Ausbildung der Transmigrationslehre, wonach die Seele eines jeden Lebewesens je nach sittlicher Leistung so oft reinkarniert wird, bis sie die Vollkommenheit erreicht hat. In diesem Zusammenhang sind die Lehren des Hinduismus, Jainismus und Buddhismus zu verstehen. Im Hinduismus verläuft die Entwicklung zwiespältig: einerseits besteht die Lehre von der Schonung alles Lebens, andererseits fließen Ströme von Tierblut im Dienste der Göttin Kali (vgl. Gonda 1967).
Im Buddhismus wird das Gebot des Nicht-Tötens ebenfalls mit unter- schiedlicher Intensität befolgt. Absoluter Höhepunkt in der Schonung alles Lebens wurde in dem die Tierwelt einschließenden Wohlfahrtsstaat des Kaisers Ashokaerreicht. „Ashoka, der um 272 bis 232 ein gewaltiges, fast die ganze Gangeshalbinsel . . . umfassendes Reich mit Weisheit und Milde regierte, war ein überzeugter Buddhist geworden und hat von seinem Glauben eindringlich Zeugnis abgelegt in den Edikten, die er in verschiedenen Teilen seines Landes in Felsen eingraben ließ” (Helmut v. Glasenapp 1943, S. 215). So auch das Edikt zur Schonung alles Lebens (Fritz Kern 1956, S. Soff.).
Über die Bedeutung des Tieres im alten Ägypten hat Erik Hornung (1967, S. 72) ausführlich berichtet. Hier nur einige Stichworte: „Der Ägypter war sich zu allen Zeiten der gemeinsamen Herkunft aus der Hand des Schöpfergottes bewußt, die keinen zum Herren des anderen eingesetzt hat. Sein Verhältnis zum Tier war nicht das der Herrschaft, sondern das der Partnerschaft. ,Herr’ der Tiere kann nur ein Gott sein. Die Gemeinschaft aller Wesen überdauert die Todesschwelle und setzt sich im Jenseits fort. Seit dem Neuen Reich gelten gestorbene Tiere wie menschliche Verstorbene als ,Osiris’, da sie im Erleiden des Todes in Wesen und Rolle dieses Gottes, der allen Geschöpfen vor-stirbt und vor- lebt, eintreten. Dieses ,Werden zu Osiris’ bringt die gestorbenen Tiere in eine Mittlerstellung zwischen Göttern und Menschen und trägt sicher dazu bei, daß sich die göttliche Verehrung einzelner Tiere in einem früher nicht gekannten Ausmaß auf ganze Tiergattungen überträgt.”
Die Beziehung zum Haustier ist eng und freundschaftlich. Haustiere gehören zum Gesinde und erhalten auch im Jenseits ihren Platz. Die Totenrichter verlangen von jedem Verstorbenen das Bekenntnis: „Ich habe kein Vieh mißhandelt” (vgl. E. Hornung 1967, S. 83).
Ägyptische Vorstellungen dringen ins Judentum ein und gelangen so in die jüdisch-christliche Tradition, die gleichzeitig auch vom griechischen und römischen Denken beeinflußt wird.
Nach F. M. Heichelheim/Th. Elliott (1967, S. 85) waren in den altorientalischen Stadtkulturen und vorangehenden Perioden die Tiere von der Menschenwelt und den Göttern noch nicht grundsätzlich geschieden. Wie man Hesiods Lehre von den Zeitaltem entnehmen kann, muß es in der griechischen Tradition die Vorstellung eines legendären Urvegetarismus gegeben haben, der das griechische Denken lange Zeit beeinflußt hat, und zwar zunächst durch die orphische Transmigrationslehre, die ähnlich wie in Indien mit einer Ethik der Schonung alles Lebens verbunden war. Tieropfer und Fleischnahrung waren ausdrücklich verboten. Orphisches Gedankengut und orphische Lebensweise wurden dann von Pythagoras (6. Jh. v. Chr.,) übernommen, der eine Schule gründete, die in Sizilien bis ins 4. Jh. weiterbestand. (Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Urs Dierauer1977 und Günter Lorenz1972).
Platon hat diese Vorstellungen gekannt, wie man in Nomoi 782 c nachlesen kann, aber weder er noch Aristoteles haben sie übernommen. Ei- nen Versuch, Platonin pythagoräischem Sinne umzudeuten, hat Xenokrates (399-314) unternommen, der uns auch die alten Gesetze von Eleusis (zitiert nach E. Westermarck, 1909, Bd. 2, S. 403) überliefert hat: „Ehre deine Eltern; opfere den Göttern Früchte der Erde; schädige kein Tier.”
Erst in der griechisch-römischen Übergangszeit wird nochmals der Versuch gemacht, das Verhältnis zum Tier unter ethischem Aspekt zu klären. Heichelheim/Elliott (1967, S. 89) erwähnen insbesondere Plutarch, der sich für den —> Vegetarismus und gegen jede —> Grausamkeit aus- spricht. Für die künftige Entwicklung der Mensch-Tier-Beziehung wird aber nicht Plutarch, sondern das römische Recht bestimmend, das die Rechtlosigkeit der Tiere bis auf den heutigen Tag konserviert hat. (vgl. hierzu auch G. M. Teutsch1975, S. 1-6).
Die wichtigste Quelle unserer abendländischen Moralvorstellungen ist neben der griechischen und römischen Tradition das Christentum, –> Tierschutzethik III. Ein davon abgehobener philosophischer Einfluß (—> Tierschutzethik IV) macht sich erst viel später geltend. Auch die Dichtung hat hier einen Beitrag geleistet; vgl. insbesondere Peter Hamm (1984), Bernt von Heiseler (1963), W. Harke/ (1979), Friedhelm Kemp (1974), Jo Mihaly (1961), Hans Schumacher (1977), G. M. Teutsch (1987 a).
II. Biologisch gesehen, gehört der Mensch verschiedenen Tierkategorien an: den Wirbeltieren, den Säugetieren, den Primaten und schließlich den Anthropoiden. Innerhalb dieser Ordnungen gibt es sowohl Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten (—> Analogie)als auch Unterschiede, —> Mensch-Tier-Vergleich.
III. Die sozialen Beziehungen zwischen Mensch und Tier sind erst ansatzweise geklärt. Von sozialen Beziehungen kann man erst sprechen, wenn es sich um individuelle Beziehungen zwischen einem bestimmten Menschen und einem bestimmten Tier handelt, d. h. wenn eine gegenseitige oder mindestens einseitige —> Du-Evidenz gegeben ist. Dieser Begriff wurde von Theodor Geiger(1931) auch auf die M-T-B. angewandt, taucht aber nur gelegentlich in der Literatur auf. Im übrigen ist Geigers Untersuchung ohne erkennbares Echo geblieben, und erst Heini Hediger, der als Zoodirektor viele Erfahrungen auf dem Gebiet der M-T-B. sammeln konnte, hat sich (1965b) in einem Aufsatz „Man as a social partner of animals and vice-versa” dem Thema wieder zugewandt. Für ihn ist „intimacy” im Sinne von Vertrautheit die Vorausset- zung einer sozialen Beziehung. Vermutlich ist solche Vertrautheit in Verbindung mit -> Empathie auch ein Schlüssel zur empirischen Erklärung der oft besonders engen Beziehungen zwischen -> Heiligen und Tieren. Die M-T-B. ist insgesamt der wichtigste Bereich der Soziologie der Lebewesen; vgl. G. M. Teutsch (1975). Für den kultursoziologischen Aspekt s. insbesondere Hans Meyer (1975).
IV. Die psychologische Seite der M-T-B. ist ebenfalls unterentwik- kelt, obwohl die Humanpsychologie weniger unter erkenntnistheoreti- schen Schwierigkeiten zu leiden hat als die —> Tierpsychologie. Immerhin gibt es einige Untersuchungen zur Beziehung zwischen —> Kindern und Tieren, außerdem eine Veröffentlichung von Desmond Morris über ver- schiedene Phasen der Entwicklung (1970, S. 22.4f.). Hieraus wird deutlich, daß für die M-T-B. verschiedene Lebensabschnitte besonders wichtig sind: (1) die Kindheit, wenn die gefühlsmäßige Einstellung zum Tier entsteht, (2) die Pubertät als kritische Phase mit gelegentlichem Fehlverhalten, (3) die Phase der Elternschaft, wenn Kinder allerlei Getier in die Familie bringen und schließlich (4) das Alter, wenn das Tier oft zum wichtigen, manchmal sogar zum einzigen Partner wird.
V. Religiöse und philosophische Reflexionen über die M-T-B. gehen weit in die Vergangenheit zurück (vgl. Ziffer I), auch wenn sie oft nur im Rahmen der Kosmologie oder Anthropologie behandelt werden. Soweit die Ergebnisse für die Gegenwart relevant sind, siehe —> Tierschutzethik.
Weitere Literatur: J. Blies 1971, 1973, H. Sauer 1983, B. Schuler 1969.