Menschenwürde

Seit der Begriff M. in Artikel 1 Abs.1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Eingang gefunden hat („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. “), wird er im allgemeinen dem Menschen als Gattungswesen, also verdienst- und versagensunabhängig, zugeordnet. Dies entspricht auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Nur unterschwellig spielt auch die früher verbreitete Vorstellung von der individuellen M., die man gewinnen oder auch verlieren kann, noch mit.

I. M. kann theologisch oder philosophisch begründet werden. Die philosophische Begründung beruft sich in der Regel auf den Vernunft- besitz, für die Theologie ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen entscheidend. Was die M. mit der —> geschöpflichen Würde zu tun hat, ist insbesondere von Karl Barth (1970, III/1, S. 198 und 210) bedacht worden.

Il. Historisch gesehen geht der Begriff auf Pico della Mirandolas berühmte Rede „De dignitate hominis” (1486) zurück, man kann aber auch schon die Bibel heranziehen, wo es in Psalm 8,5-9 heißt: „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht.” Die M. hängt mit der —> Sonderstellung des Menschen zusammen und wird sowohl vom —> anthropozentrischen Humanismus als auch von der artübergreifenden Ethik der —> Humanität als Grundlage beansprucht.

III. Heute wird M. meistens in Zusammenhang mit Lebensumstän- den gebracht, die als menschenunwürdig kritisiert werden, wobei diese Zustände sowohl äußere Lebensbedingungen als auch menschliches Handeln betreffen können, wie etwa Sterbehilfe, Experimente mit Embryonen oder eben auch —> Tierquälerei. Vgl. hierzu auch Ija Pawlowska (1982).

IV. Die Vorstellung der M. ist also nicht nur ein Konzept zur Begründung von Rechten auf bessere Lebensbedingungen für den Menschen, sondern auch ein Konzept zur Begründung von Pflichten des Menschen, wobei in beiden Fällen an den Staat appelliert wird, seine verfassungsmäßige Aufgabe wahrzunehmen. Nach Rolf Ginters, der sich in seiner Ethik (1982, S. 116-175) ausführlich mit der M. befaßt, hat diese nicht nur damit zu tun, „daß es den Menschen gutgehe”, sondern auch – und sogar vorrangig – darum, „daß er gut sei” (S. 138). So wird die den Menschen aus den übrigen Lebewesen heraushebende M. darin gesehen und auch damit begründet, „daß jeder Mensch, im Unterschied zum Tier, ein moralisches Wesen ist, d. h. daß er prinzipiell dazu fähig und berufen ist, in Einsicht und Freiheit seinen sittlichen Stand selbst zu bestimmen. Die besondere Würde des Menschen scheint demnach darin zu bestehen, daß sein Leben nicht völlig darin aufgeht, als Exemplar seiner Gattung so glücklich wie möglich zu leben, sondern daß jedem einzelnen darüber hinaus eine spezifisch nur ihn betreffende Aufgabe zukommt, nämlich kraft seiner Freiheit ein im moralischen Sinn guter Mensch zu sein.” Robert Spaemann verbindet (1984, S. 76) die M. direkt mit dem Gewissen, das bestimmte Handlungsweisen verbietet (—> Güterabwägung II), z. B. auch Tierversuche (—> Kantische Position).

Hiermit stimmt überein, daß wir nach Georgi Schischkoff (1982, S. 723) verantwortungsbewußt (—> Verantwortung) „so handeln, daß die Folgen unserer Handlungen uns nicht nur zugerechnet werden können, sondern (in Anerkennung der Würde unserer Persönlichkeit) müssen”. Ganz in diesem Sinne äußert sich Hubert Markl (1986, S. 112): „Des Menschen Würde kommt aus seiner Freiheit und in deren Folge von dem Zwang – in Denken und Handeln – für sein Dasein volle Verantwortung zu tragen und ihm dadurch Sinn zu verleihen . . .”

V. Diese Verantwortung betrifft jedes menschliche —> Handeln und nicht etwa nur das zwischenmenschlich relevante. Hier ist wichtig, was Bischof Hans Lassen Martensen in seiner Christlichen Ethik (1866, Teil 2, § 121, 5. 333) über „die Liebe zur unpersönlichen Creatur” zusammenfassend sagte: „Der Mensch muß die Natur mit Humanität behandeln, d. h. in der Weise, welche mit der eigenen Würde des Menschen, d. h. mit der Würde der menschlichen Natur übereinstimmt.” Etwas ausführlicher hat Hans Lenk (1983, S. 14) diese Position beschrieben: „Es zeichnet den Menschen aus – ist für mich Teil der Menschenwürde -, daß er nicht nur für seine eigenen – auf Mitmenschen gerichteten – Handlungen Pflichten übernehmen kann, sondern daß er auch gegenüber anderen lebendigen Naturwesen und für (statt nur in Ansehung von) Natursysteme und Naturwesen Verantwortung übernehmen kann und heute sogar muß . . . Er ist das Wesen, das Einsicht in den Gesamtzusammenhang haben kann und über seine anthropozentrische Beschränkung hinaus dem Gesamtsystem sowie ökologischen Teilsystemen der Natur als auch lebendigen Partnern in der Natur Existenzberechtigung zuerkennen kann. Sagesse oblige. Wissen verpflichtet. Diese übergreifende Moral . . . erscheint eher dem Menschen würdig, sozusagen ,ehrwürdiger’, geradezu ,humaner’ als die traditionell strikte Selbstbeschränkung auf menschliche Interessen.”

VI. So ist es verständlich, daß die M. auch in der Tierschutzdiskussion eine Rolle spielte. Die Kommission für Versuchstierforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat das in ihren Stellungnahmen „Tierexperimentelle Forschung und Tierschutz” (1981, S. 25) so beschrieben: „Tierversuche werden im Bereich der medizinischen und biologischen Forschung für unabweisbar notwendig erachtet. Dem ste- hen Auffassungen entgegen, die — in ihrer extremen Ausprägung— Tierversuche für verzichtbar halten. Beide Positionen berufen sich auf Grundwerte unserer Verfassung: Forschungsfreiheit auf der einen, Verantwortung für das Tier als Mitlebewesen, die als Teil der Menschenwürde zu verstehen ist, auf der anderen Seite.”

Der Verfassungsjurist sieht das dann so (Ralf Dreier und Christian Starck, 1984, S. 106 f.), nämlich „. . . daß das Gebot der Wahrung der Menschenwürde fordert, den Tierschutz als ein Kollektivgut aufzufassen, welches der individuellen Grundrechtausübung Schranken zu setzen vermag. Eine Unterstützung erfährt diese Argumentation durch die Präambel des Grundgesetzes. Wenn das Deutsche Volk, wie es dort heißt, das Grundgesetz ,im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen’ beschlossen hat, so schließt dies — auch in der gebotenen Zurückhaltung, mit der diese Formel zu interpretieren ist — die Mitverantwortung des Menschen für die Schöpfung und das ‚seiner Obhut anheimgegebene Lebewesen’ ein. Als Ergebnis ist demnach festzuhalten, daß der Tierschutz ein mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswert ist, weil er ein Kollektivgut darstellt, dem das Grundgesetz vermöge des ihm zugrunde liegenden Menschenbildes in Verbindung mit dem Würdeprinzip (Art. 1 Abs. 1 GG) Verfassungsrang verliehen hat. Greift eine Wissenschaftshandlung in dieses Rechtsgut ein, so hat eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Güterabwägung stattzufinden. Für sie gilt die allgemeine Abwägungsregel: Je intensiver der Eingriff ist, desto größer muß das Gewicht der ihn legitimierenden Gründe sein. Die Abwägung kann ergeben, daß auf bestimmte Tierversuche völlig zu verzichten ist, wenn der durch sie zu erwartende Erkenntnisgewinn außer Verhältnis zu dem Leiden steht, das den Tieren durch den Versuch zugefügt wird.” Ein dem nicht widersprechendes, aber doch anderes Konzept zur verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkung der Forschungsfreiheit hat Martin Kriele (1987) vorgetragen. Für ihn ist wichtig, daß (1) auch die Ausübung eines vorbehaltlosen Grundrechtes nicht von der Achtung der Rechte der Gemeinschaft befreit, und (2) daß die Verfassungsmäßigkeit des Tierschutzgesetzes von 1972 durch das Bundesverfassungsgericht nicht angezweifelt, sondern bestätigt wurde. Vgl. hierzu auch Wolfgang Scharmann (1987).

Die juristische Gegenposition wurde von Karl Doehring (1986, S. 137-158) und Michael Kloepfer (1987) erarbeitet. Da vermutlich einige Wissenschaftler gegen die den Tierversuch reglementierenden Vorschriften der Tierschutznovelle von 1986 Verfassungsbeschwerde einlegen werden, kann die verfassungsrechtliche Klärung wohl nur durch einen Spruch des Bundesverfassungsgerichtes erfolgen.

Literatur: Im Text erwähnt.

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