Naturalismus

Tierschutzethischer N. will das —> Handeln des Menschen in bezug auf das Tier von den in der Natur selbst herrschenden Verhältnissen ableiten. Der ausbeuterische Mensch wird demnach als ein sich natürlich verhaltendes Wesen dargestellt, das im Grunde nichts anderes tut als die Tiere auch, d. h. im Kampf um bestmögliche Lebensbedingungen setzt er seine Fähigkeiten ein und nimmt das ihm von der Natur gegebene „Recht des Stärkeren” wahr.

Dabei kann sich der moderne Naturalist auf eine lange abendländische Tradition berufen. Denn trotz seiner unübersehbaren Liebe zur Natur, die er als ein gestuftes Ganzes ansieht, wird Aristoteles gelegentlich als Begründer der naturalistischen Weltschau angesehen (vgl. Christina Hoff, 1980, 5.115), wonach der Mensch das Recht hat, sich mit der in der Natur waltenden Härte auch gegen andere Lebewesen durchzusetzen. Wie Urs Dierauer (1977, S. 62 f.) zeigt, kommt das Recht des Stär- keren aber noch viel deutlicher in den Worten des Kallikles in Platons Gorgias zum Ausdruck.

Der moderne durch den Sozialdarwinismus mitgeprägte N. spielt insbesondere in der Diskussion um die—> Nutztierhaltung eine Rolle. Die Argumentation verläuft nur etwas anders, um dem Vorwurf des natura- listischen Fehlschlusses (–> Sein-Sollen-Problem)zu entgehen. Die Naturverhältnisse werden nicht als ethische Norm verstanden, sondern als ethisch neutral. So begründen Klaus Zeeb und R. G. Beilharz (1980, S. 606) das Recht auf „genetische Veränderung von Tieren zu Zwecken der menschlichen Nutzung” mit der Feststellung (S. 609): „Die Beeinflus- sung einer Art durch eine andere ist ‚natürlich’ und daher ethisch neutral.” Vgl. —> Züchtung. Dabei wird übersehen, daß die Beeinflussung der anderen Arten durch den Menschen durch dessen bewußtes und gezieltes Handeln eine ganz andere Qualität hat als die Beeinflussung der Tierarten untereinander, die ja nicht handeln, sondern nur sich —> verhalten können.

Wann immer der Mensch sich gegen die —> Interessen der Tiere ent- scheidet, ist er versucht, sein Tun mit dem Hinweis auf die Natur zu entschuldigen. Dabei vergessen wir, daß wir nicht nur Natur-, sondern auch Geistwesen sind, daß wir dem Umfang unserer größeren Hand- lungsfreiheit entsprechend von dem natürlichen Zwang zur Härte befreit und zu der nur dem Menschen möglichen —> Humanität verpflichtet sind. Der Mensch, der seine überlegene —> Sonderstellung und —> Menschenwürde gegenüber den Tieren so oft in Anspruch nimmt (vgl. —> Anthropozentrischer Humanismus), kann sich ihrer lästigen Verpflichtung nicht gerade dann entledigen, wenn es ihm und seinen Interessen dienlicher wäre, sich auf eine uns von der Natur aufgezwungene „Raubtiernatur” hinauszureden. Rainer Maria Rilke hat das so formuliert: „Wenn der Mensch doch aufhörte, sich auf die Grausamkeit der Natur zu beru- fen, um seine eigene zu entschuldigen! Er vergißt, wie unendlich schuldlos auch noch das Fürchterlichste in der Natur geschieht.” (Zitiert nach G. M. Teutsch 1987 a, S. 163.)

Genau das unternimmt aber Otto D. Creutzfeldt (1985, S. 17f.), wenn er beschreibt, wie die unmittelbare Ausbeutung landwirtschaftlicher Nutztiere in gleichem Maße erfolgt, „wie ein Raubtier ein Beutetier zur Befriedigung seines Bedürfnisses nach Nahrung tötet. So läßt sich dies Verhalten des Menschen dem Tier gegenüber moralisch durch die Einsicht in seine ,Raubtiematur’ rechtfertigen.” Creutzfeldt führt dann weiter aus, daß die Benutzung von Versuchstieren beim —> Tierversuch im Grunde nichts anderes sei als die Ausbeutung anderer Nutztiere auch, nur daß die Endprodukte nicht mehr vom Tier selbst stammen. „Statt dessen treten die vordergründigen Aspekte der nicht naturgemä- ßen Tierbehandlung — ausgeführt von Spezialisten und einem speziell hierfür entwickelten Apparat — isoliert zur Diskussion und werden nicht mehr durch das moralisch noch akzeptierbare Argument der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung des Raubtiers Mensch gerechtfertigt. Der Tierversuch läßt sich somit leicht als ‚Entfremdung’ des Tieres von seiner Bestimmung denunzieren.”

Naturalistische Denkweise kommt auch in einigen Ethik-Konzepten zum Ausdruck, so in der evolutionistischen Ethik (vgl. Otfried Höffe 1980, 5.55 f. und R. Riedl und F. Wutketits 1987) mit ihren Varianten (s. Reinhard Löw 1986) sowie in dem Versuch von Roger Sperry (1985), das Entstehen des —> Wertgefühls neurophysiologisch zu erklären.

Literatur: Im Text erwähnt.

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