Notwendigkeit

In der Diskussion über die -> Rechtfertigung üblich gewordener Ausbeutungspraktiken zum Nutzen des Menschen (–> Benutzungstheorie) gewinnt man den Eindruck, daß z. B. die Befürworter der intensiven -> Nutztierhaltung oder der -> Tierversuche auch in ihrer ethischen Überlegung von einer vorgegebenen N. ausgehen und erst dann nach Rechtfertigungskonzepten suchen. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber der Ethiker darf nicht so verfahren. Seine Frage ist nicht die nach der N., sondern die nach der moralischen Zulässigkeit menschlichen -> Handelns. Zwar darf die Ethik keine grundsätzlich unerfüllbaren Forderungen stellen, wie etwa einen Verzicht auf jegliche Nahrung, sie kann aber durchaus vorschreiben, welche Nahrung zulässig ist. Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Grad der N. einer Handlung, aber ebendies ist auch der Grund, warum die N. als solche noch kein Argument ist, sondern ihrerseits einer Erörterung bedarf.

Um Notstände abzuwenden oder zu lindern, soll das Notwendige geschehen. Der N. des Tierschutzes werden die N.en des Menschen gegenübergestellt, und auch hier lehrt der –> anthropozen frische Huma- nismus den Vorrang des Menschen; aber das ist nur die eine Seite. Die Frage, ob wir die Nöte des Menschen dadurch abwenden dürfen, daß wir diese Nöte in gleichem oder noch größerem Umfang den Tieren aufbürden, führt uns ins Zentrum der —> Tierschutzethik und in die Problematik der -> Güterabwägung und des -> vernünftigen Grundes. Wann immer N.en mit ethischen Forderungen kollidieren, läßt Albert Schweitzer nur die „unentrinnbaren” (Werke 1, S. 243) oder „grausigen” (Werke 2, S. 387) N.en gelten. Letztlich gibt es für ihn aber nur eine N., nämlich die der Erhaltung und Förderung von Leben (Werke 2, S. 396). Entsprechend kritisch bedenkt Jürgen Dahl (1984, S. 218 f.) die N., Tiere zur Fleischgewinnung zu töten (—> Vegetarismus)oder zu wissenschaftlichen Versuchen (—> Tierversuche) zu verwenden: „Man räumt gerne ein, daß man sich da in einer gewissen Zwangslage befindet, hin- und hergerissen zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Interessen der Tiere, aber man vermeidet es möglichst, die Zwangslage und die Zwänge etwas genauer daraufhin zu untersuchen, wie zwingend sie denn sind.”

Unter dem Aspekt der —> Gerechtigkeit und dem daraus resultierenden –> Gleichheitsgrundsatz ist es jedenfalls unmöglich, die Nöte des Menschen zu Lasten der Mitgeschöpfe zu lindern, soweit diese dann ihrerseits in gleicher oder ähnlicher Weise darunter zu leiden hätten. Dabei ist noch zu bedenken, daß die Lastenverlagerung vom Menschen auf das Tier meist nicht im gleichen, sondern im vielfach höheren Verhältnis erfolgt. Beim jährlichen Fleischverbrauch von ca. 80 kg ist es nicht nur ein Tier, das für uns leidet, sondern insgesamt viele.

Und selbst wenn man den ethischen Aspekt einmal außer acht läßt und nur das Gesetz im Auge hat, muß man sich fragen: Mit welcher N. wird eigentlich das Töten oder Mißhandeln von Tieren für –> Luxus und Freizeitvergnügen begründet, und wie sieht hier die immer wieder geforderte –> Güterabwägung aus?

Über N. wurde und wird im Tierschutz noch immer gestritten, bald für die N. von Reformen, bald für die N., solche zu verhindern, je nach den —> Interessen der Betroffenen. Auch wenn es um Fragen der —> Hu- manität geht, gibt es diesen Streit; man denke nur daran, gegen welche Widerstände und vermeintliche N.en die Abschaffung der Inquisition, der Folter, der Sklaverei, der Kinderarbeit und schließlich der Todesstrafe zu kämpfen hatte und oft noch immer zu kämpfen hat.

Weitere Literatur: G. Schischkoff 1982, S. 498.

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