Pietismus

Pietismus gilt zwar als evangelische Erweckungsbewegung, ist aber als religiöse Erneuerungsphase und Intensivierung der Volksfrömmigkeit auch im katholischen Bereich deutlich erkennbar, etwa im Wirken des Regensburger Moraltheologen und Pädagogen Johann Michael Sailer (1751-1832). Als „Vater” des P. gilt der Elsässer Theologe Philipp Jakob Spener (1635-1705). In einer ausführlichen Erklärung zu Luthers kleinem Katechismus gibt er bei der Behandlung des fünften Gebotes auf die Frage 238: „Geht denn dieses Gebot auch andere Creaturen an?” folgende Antwort: „Es geht eigentlich allein den Menschen an, aber in gewissem Maaß erstreckt sichs auch auf andere Creaturen, nämlich wie wir sollen gütig und barmherzig seyn gegen den Menschen, und hingegen verboten ist alle Grausamkeit gegen dieselben, also ist es auch nicht recht gegen unvernünftige Thiere, die ja auch unseres Gottes Geschöpfe sind, Grausamkeit zu üben, sie aus Muthwillen zu verderben, oder dieselben anders als zu dem nöthigen Gebrauche, wozu sie uns gegeben sind, zu gebrauchen” (Spr. 12, 10, Röm 8, 20). (Zitiert nach Albert Schweitzer, Predigten S. 39.) Damit wird die biblische —> Barmherzigkeit in ihrer artübergreifenden Dimension wiederentdeckt und später von Christian Adam Dann (1758-1837) zu einem pietistischen Tier- und Naturschutzkonzept entwickelt und in zwei Schriften (1822 und 1833) niedergelegt; vgl. hierzu auch die Stichworte —> Humanität und > Menschenwürde.

Damit war der Boden für die Gründung des ersten Tierschutzvereins in Deutschland durch Pfarrer Albert Knapp in Stuttgart vorbereitet. 1837 läßt er einen Gründungsaufruf drucken, und einige Jahre später faßt er seine Tierschutzethik unter dem Titel „Das ängstliche Harren der Kreatur” (1843) zusammen. So wird der Anschluß an die biblische Tradition wiederhergestellt und der Versuch unternommen, dem Menschen des 19. Jahrhunderts die ethischen Folgerungen daraus deutlich zu machen. Am Ende dieser Entwicklung steht der Versuch des dänischen Bischofs Hans Lassen Martensen, „Die Liebe zu der unpersönlichen Creatur” im Rahmen seiner Ethik darzustellen, s. —> Pflichtenkonzept II.

Die größte Breitenwirkung wurde erzielt, als pietistische Tier- und Naturschutzgedanken als Texte für kirchliches Liedgut entdeckt wurden. Das Biberacher Gesangbuch von 1802 enthält eine eigene Abteilung unter dem Titel „Pflichtgemäßes Betragen gegen Thiere, Pflanzen und Bäume”, —> Pflichtenkonzept. So wird –> biblische Tierschutzethik unter das Kirchenvolk gebracht. Vom Kirchenlied fand der Tierschutz auch in die kirchliche Unterweisung und seit 1853 durch den Bernischen Pfarrer Adam Molz auch in die Schule überhaupt. In dieser Zeit fand der Tierschutzgedanke als Frage nach der Tierquälerei auch Eingang in die Beichtspiegel verschiedener Diözesen; vgl. auch –> Kirche und Tierschutz. Mitgeschöpfliches Empfinden war in die Volksfrömmigkeit eingedrungen und hatte auch die Kraft, alltägliche Gewohnheiten zu verändern, wie das von Dieter und Roland Narr (1967, S. 299) zitierte Wort besagt: „Wenn sich ein Bauer bekehrt, dann merkt das auch das Vieh im Stall.”

Die pietistische Ethik geht vom Ist-Zustand der gefallenen Schöpfung aus. Sie begnügt sich mit einer praktikablen, den Menschen nicht überfordernden Verhaltensrichtlinie für den Alltag, mit offenem Blick für die meisten der damals feststellbaren Mißstände, und ist als Impuls sowohl in die kirchlichen Vorstellungen wie auch in die allgemeine Humanitätsethik eingeflossen. Albert Schweitzer hat diese Ethik wohl gekannt und ist sozusagen in ihr aufgewachsen. Dank und Würdigung hat er ihr in seiner Tierschutzpredigt über das Wort in den Sprüchen 12, 10 (Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber der Gottlose ist unbarmherzig) in der St.-Nicolai-Kirche zu Straßburg gezollt (Predigten S. 35-50).

Weitere Literatur: Chr. F. von Ammon 1843, H. W. von Ehrenstein 1840, J. H. Eichholz 1805, H. Meyer 1975, S.118-127, M. Scharfe 1968.

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