Tierversuche

Der T. ist eine etablierte Forschungsmethode der naturwissenschaftlichen Medizin und Tiermedizin. Für die geschichtliche Entwicklung s. Ulrich Tröhler (1985). Die Zahl der T. ist meist umstritten, außer in Großbritannien, wo diese Versuche seit 1876 nach einem bestimmten Schema jährlich registriert und durch das Innenministerium veröffentlicht werden. 1970 wurde mit der Gesamtzahl von 5 580 876 Versuchen der bisherige Höhepunkt erreicht, seither sind die Zahlen rückläufig. 1981 waren es nach Mitteilung des Internat. Journal for the Study of Animal Problems (4. 1983, 1. S. 19) noch 4 344 000, weil immer mehr Versuche durch andere Methoden ersetzt werden. Auch in der Schweiz wird neuerdings eine Statistik geführt. Demnach konnte die Zahl der verwendeten Tiere von 1 992 749 im Jahre 1983 auf 1 576 851 im Jahre 1985 gesenkt werden; vgl. A. F. Goetschel (1986, S. 106f .) und Andreas Steiger (1986, S. 18). Die meisten Versuche dienen der –> Arzneimittelerprobung.

Zur Frage dieser Alternativmethoden s. Dallas Pratt (1983) und D. H. Smyth (1982). Aus der Literatur wird deutlich, daß sich der T. im Laufe seiner Entwicklung wesentlich verändert hat. Trotzdem sind nach Angaben aus der Forschung etwa 10 % der Versuche auch heute noch mit erheblichen und andauernden —> Schmerzen verbunden, die so weit wie möglich gelindert werden, so Klaus Gärnter (1985, S. 208). Jeder Quantifizierungsversuch dieser Art hängt jedoch von der zugrundegelegten Skala ab und läßt auch einen gewissen Ermessensspielraum. Ernste Zweifel an solchen Angaben stellen sich insbesondere nach der Lektüre eines Aufsatzes von A. Baumberger (1983) ein, aus dem man folgern muß, daß es über die Anwendung schmerzstillender Mittel bei den Nagetieren weniger Literatur gibt. Wenn diese Zweifel begründet sind, würden Kaninchen, Hamster, Ratten und Mäuse, die ca. 90 % aller Versuchstiere stellen, oft nicht oder unzureichend mit Schmerzmitteln ver- sorgt werden.

I. Auch der Streit um die T. ist schon alt und hat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seinen ersten Höhepunkt erreicht. Vgl. hierzu Hubert Bretschneider(1962) und Richard D. French (1975). Damals wie heute geht es um (1) den medizinischen Nutzen und (2) um die ethische Zulässig- keit der Versuche. Die Argumentationslage zur Frage nach dem Nutzen ist unverändert: Unter den Wissenschaftlern ist es nur eine kleine Minderheit, die den T. als medizinisch unbrauchbar ablehnt. Aber die Zahl derer, die den T. aus ethischen Gründen verurteilen, ist in den letzten

Jahren erheblich gewachsen. So wird auch verständlich, daß sich der Diskussionsschwerpunkt von den methodischen Sachfragen auf Grundsatzfragen verlagert hat, wie etwa den —> Konflikt zwischen dem in unserem Kulturkreis bisher kaum angezweifelten Recht des Menschen, Tiere für seine Zwecke zu nutzen (—> Benutzungstheorie)und der heute entschiedener vertretenen Pflicht, auf Leben und Wohlbefinden der Mitgeschöpfe Rücksicht zu nehmen (–> Pflichtenkonzept),

Seit der Zuspitzung legislativer Vorhaben in der Bundesrepublik und in der Schweiz sowie dem Erscheinen mehrerer Sammelbände in den Jahren 1984-86 wurde diese Entwicklung immer deutlicher. Auch Bio- mediziner sehen heute die Notwendigkeit der ethischen —> Rechtfertigung ihrer Forschung, so z. B. Detlev O. Creutzfeld (1983), Klaus Gärtner (1980), Franz Gross (1981), Heiko Hörnicke (1985), Helmut Piechowiak (1981, 1983), Gert Preiser (1983), Gerhard Riecker (1985), Hans Schaefer (1983), Wolfgang Scharmann (1981, 1983, 1986), Karl Heinz Sonntag (198o), Gunther S. Stent (1984), Ulrich Tröhler (1985), Beat Tschanz (1986), Ewald R. Weibel (1983, 1985), Werner Wilk (1984), Günter Wittke (1976, 198oa und b), Gerhard Zbinden (1983, 1985), Manfred Zimmermann (1984).

II. In dieser Entwicklung lassen sich verschiedene Denkrichtungen erkennen. Die Ethik der —> Humanität wird insbesondere als Forderung christlicher —> Barmherzigkeit in traditioneller Weise vertreten, läßt aber auch ein dynamisch-progressives Element erkennen: Wenn man erst einmal die Pflicht akzeptiert hat, in seinem Handeln und Unterlassen nicht nur das Wohl der Mitmenschen, sondern auch das der anderen leidensfähigen Mitgeschöpfe zu bedenken, dann steht man bald vor der Frage, ob und gegebenenfalls wann das Wohl des einen vor dem anderen Vorrang haben kann.

Humanität, die den traditionellen —> Artegoismus des Menschen zugunsten der Mitlebewesen überwinden soll, ist erst dann erreicht, wenn wir unsere bisher übliche Willkür durch Barmherzigkeit gemildert und schließlich durch —> Gerechtigkeit ersetzt haben. Es geht also nicht darum, die bisherigen Verhältnisse einfach auf den Kopf zu stellen und dem Tier einen Vorrang vor dem Menschen einzuräumen, sondern nur darum, den Mitgeschöpfen gerecht zu werden, und zwar sowohl in ihrer Gleichheit oder Ähnlichkeit wie auch in ihrer Andersartigkeit. Vielleicht könnte die Forderung nach Gerechtigkeit für Mensch und Tier zur Annäherungsformel zwischen Befürwortern und Gegnern der T. werden; vgl. –> Gerechtigkeit V.

Eine Zusammenfassung der Argumente pro und contra T. findet sich bei Dale Jamieson (1985). Seither ist die Position der Befürworter (1986) von Michael Allen Fox (nicht zu verwechseln mit Michael W. Fox) erneut vorgetragen worden.

III. Die Mehrheit der Biomediziner hält sich jedoch aus der ethischen Diskussion heraus oder beharrt auf dem —> anthropozentrischen Humanismus, wonach die ärztliche -> Ethik den Medizinforscher zum T. verpflichte, weil im Konfliktfall der Mensch Vorrang vor dem Tier habe. Der Codex experiendi der Deutschen Tierärzteschaft (1983) ist ganz auf dieser Position aufgebaut. Die Begründung geht von der evolutionsbedingten —> Sonderstellung des Menschen aus, die ihm einerseits die Möglichkeit gibt, „Tiere als Nutztiere für mannigfache Zwecke verfügbar zu machen”, ihm andererseits aber auch ein diese Verfügung begrenzendes „Bewußtsein der Mitgeschöpflichkeit” (Ethische Leitsätze Bi) verleiht.

(1) Der Mensch hat den in diesen beiden Fähigkeiten angelegten —> Konflikt auf unterschiedliche Weise zu bewältigen versucht, indem er entweder wie in abendländischer Tradition mehr das Nutzungsrecht oder wie nach östlicher Überlieferung mehr die Schonungspflicht als vorrangig ansah.

(2) Die abendländische Entwicklung hat schon sehr früh eine auf Nutzung abzielende Richtung eingeschlagen, und es trifft also zu, wenn im Leitsatz B4 des Codex experiendi (1983) vom Verfügungsrecht des Menschen gesagt wird, daß es sich in Übereinstimmung mit den vorherr- schenden religiösen und philosopischen Vorstellungen unseres Kulturkreises befinde. Zugleich muß sich diese Mehrheit in Anlehnung an Helmut Piechowiak (1981) fragen lassen, was das für eine Gesellschaft ist, die von massenhaft produziertem Leiden der Tiere zu profitieren wünscht.

(3) Unbeschadet dieses Verfügungsrechtes hat sich im Zusammenwirken von Elementen der Aufklärung und des –> Pietismus eine Humanitätsethik entwickelt, auf der die neueren Tierschutzgesetze (-> Gesetzlicher Tierschutz) beruhen. Dies wurde bereits bei der Beratung des deut- schen Tierschutzgesetzes von 1972 deutlich gemacht (–> Humanität III) und auch nie in Frage gestellt.

Artübergreifende Humanität verlangt freilich mehr als nur ein verba- les Bekenntnis zu fernen Zielen, sondern vielmehr konkrete Verzichtleistungen im Bereich der bisher kaum eingeengten Verfügungsmacht über das Tier. In der -> Mensch-Tier-Beziehungmuß Willkür durch das Bemühen um —> Gerechtigkeit überwunden werden. Gerechtigkeit wird aber nur erreicht, wenn der —> Gleichheitsgrundsatz beachtet wird, der verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches gemäß seiner Verschiedenheit entsprechend anders zu behandeln.

IV. Die Gleichbehandlung der Tiere in Bezug auf die Schmerzzufügung wurde in der neuzeitlichen Ethik zuerst von Jeremy Bentham (1748-1832) und später, auf ihn sich berufend, von Peter Singer (1975, Kapitel 1) verlangt. Da Mensch und Tier aber auch große Unterschiede aufweisen (-> Mensch-Tier-Vergleich), war es notwendig, auch den zweiten Teil des Gleichheitsgrundsatzes, das Gebot der Andersbehandlung im Falle des Verschiedenseins, in Erinnerung zu bringen, wie das in der deutschsprachigen Literatur seit 1979 in Gang kam, so etwa bei Otfried Hoffe (1982, S. 1007), Arthur Kaufmann (1986, S. 124), K. M. Meyer-Abich (1982, S. 581), Günther Patzig (1986, S. 87-91), Hans Ruh (1985, S. iof.), G. M. Teutsch (1979b, S. 11) und Beat Tschanz (1986). Dabei wird deutlich, daß die Andersbehandlung der Tiere nur dann möglich bzw. geboten ist, wenn der zur Begründung vorgebrachte Unterschied zweifelsfrei festgestellt ist und wenn es sich um eine ethisch relevante Andersartigkeit handelt. Bisher wird immer noch angenommen, daß ein besonders gravierender Unterschied sich auch entsprechend auf den Spielraum der dann zulässigen Andersbehandlung auswirken könne; vgl. hierzu auch –> Gleichheitsgrundsatz IV.

(1) Versuche, solche ethisch relevanten Unterschiede zu finden, werden seit einiger Zeit unternommen. So hat Günther Patzig (1986, S. 80f.) die Meinung vertreten, daß Tiere bei gleicher Belastung anders und weniger leiden als der Mensch. Dieser These ist mehrfach widersprochen worden, auch von Klaus Gärtner (vgl. W. Hardegg und G. Preiser 1986, S. 128).

Auch Otfried Höffe hat sich eingehend mit dem Mensch-Tier-Unterschied befaßt und schreibt (1984, S. 85f.): „Wendet man nun den in jeder ethischen Rechtsbetrachtung unbestrittenen Gleichheitsgrundsatz an, so ergibt sich eine doppelte Forderung: Weil einerseits Menschen und Tiere trotz mancherlei Unterschiede in der Fähigkeit, Schmerz und Angst zu empfinden, im Prinzip’ gleich sind, besteht das sittliche Gebot, auf die Schmerz- und Angstfähigkeit nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier Rücksicht zu nehmen. Da andererseits nur der Mensch, nicht das Tier sittliche Verantwortung tragen kann, hat das Gebot als einzigen Adressaten (Subjekt) den Menschen, obwohl es als Anwendungsbereich (Objekt) auch die Tierwelt umfaßt.” Für das vollständige Zitats. —> Wohlbefindensprinzip II/2.

(2) Höffes Stellungnahme hinsichtlich der Schmerzzufügung ist klar. Er fährt aber (S. 86f.) fort: „Jedoch ist das Verbot, Tiere zu töten, keine notwendige Folge aus dem Verbot, die Schmerz- und Leidensfähigkeit zu mißachten. Denn hier ist eine wesentliche Differenz zu beachten: im Unterschied zum Menschen leben Tiere weitgehend im Augenblick. Wegen ihres mangelnden Verstandes machen sie sich keine Sorgen über die Zukunft; sie kennen weder Hoffnung noch Verzweiflung, auch keine Vorstellung vom Tod.” Vgl. hierzu —> Lebenserhaltungsprinzip.

Die Diskussion über das Töten von Tieren hat gerade erst begonnen und erlaubt noch keine wertende Stellungnahme. Die im Vergleich zum Menschen andere Bedeutung des Todes für das Tier bedarf der Klärung; erst dann ist auch zu entscheiden, unter welchen Bedingungen wir Tiere töten dürfen. Solange jedoch das —> Schlachten von Tieren zur Fleischgewinnung als zulässig gilt, muß es auch erlaubt sein, Tiere für Zwecke der biomedizinischen Forschung zu töten. Unbezweifelt ist auch, daß wir Tieren immer dann einen gnädigen Tod bereiten sollen, wenn ihnen das Weiterleben zur Belastung oder gar zur Qual wird; vgl. hierzu —> Ehrfurcht vor dem Leben III und —> Lebenserhaltungsprinzip III/IV.

V. Beim Studium mancher Texte gewinnt man den Eindruck, daß die Biomediziner in ihrer ethischen Überlegung von einer vorgegebenen —> Notwendigkeit der T. ausgehen und erst dann nach Rechtfertigungsgründen suchen. Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Grad der Notwendigkeit einer Handlung, aber eben dies ist auch der Grund, warum die Notwendigkeit als solche noch kein Argument ist, sondern ihrerseits einer ausreichenden Begründung bedarf.

(1) Diese Begründung ist besonders wichtig, wenn moralisch unzulässige oder bedenkliche Mittel zur Erreichung übergeordneter Zwecke eingesetzt werden sollen. Dann muß nämlich auch der Nachweis erbracht werden, daß alle moralisch zulässigen Mittel voll ausgeschöpft wurden und nichts mehr erbringen. Wenn das Ziel also darin besteht, Krankheit zu bekämpfen und Leben zu schützen, dann muß nachgewiesen werden, daß alle zweckdienlichen, zumutbaren und zugleich moralisch unbedenklichen Möglichkeiten erschöpft sind; eben dies ist oft nicht der Fall. Zwar stürzt sich die Forschung mit Eifer auf alle noch ungelösten Fragen, aber die optimale Anwendung der gefundenen Ergebnisse wird offenbar als zweitrangig angesehen; vgl. Kohärenz N.

(2) Vor allem ist zu beanstanden, daß im Bereich der bereits weitgehend erforschten Massenkrankheiten zu deren Verhütung so wenig geschieht, obwohl wir wissen, daß sie häufig aus vermeidbarer Falsch- ernährung entstehen. 140 000 Bundesbürger sterben jährlich an den Folgen übermäßigen Rauchens (Die Zeit 23, 1979), und ca. 60 Milliarden DM werden jährlich aufgewandt, um die durch Falsch- oder Ciberemährung, Alkohol- und Tabakkonsum verursachten Krankheiten einigermaßen unter Kontrolle zu halten (Bad. Neueste Nachrichten vom 22.2.1984). Es ist also höchste Zeit, die nach Angaben des Bayerischen Arbeits- und Sozialministeriums mit nur 0,5 % veranschlagte Präventivmedizin auf Kosten der mit 99,5 % überdimensionierten Kurativmedizin drastisch zu erhöhen.

VI. Seit es T. gibt, durften die damit befaßten Wissenschaftler der Überzeugung sein, ihre oft schreckliche Arbeit „in Übereinstimmung mit den vorherrschenden religiösen und philosophischen Vorstellungen unseres Kulturkreises” zu tun (Codex experiendi 1983, Buchst. B4). Erst seit einigen Jahren ist hier eine Änderung erkennbar. Zwar ist die Mehrheit der Bürger immer noch bereit, T. hinzunehmen, wenn sie auf das wirklich —> unerläßliche Maß beschränkt und so schonend wie möglich durchgeführt werden, aber die Zahl der Menschen wächst, die mit diesem –> Kompromiß nicht länger leben wollen und auch bereit sind, alle Konsequenzen zu akzeptieren.

(1) Wer in der ethischen Diskussion den T. verteidigen will, hat zwar noch immer die Mehrheitsmeinung und die im Grundgesetz verbriefte Forschungsfreiheit für sich (vgl. hierzu —> Menschenwürde VI und —> Sittengesetz), aber die rationale Begründung wird immer schwieriger, es sei denn, er unterläuft die ganze philosophische Argumentation und be- ruft sich auf die christliche Ethik, deren Glaubensgrundlage der logischen oder empirischen Begründung nicht bedarf. Aber auch die religiöse Argumentation ist nicht einfach, und Hans Ruh (1985, S. 12-15) hat sicher recht, wenn er annimmt, daß man innerhalb der christlichen Ethik den T. nicht nur verteidigen, sondern auch ablehnen kann, wobei allerdings auch hier die entschiedenen Gegner in der Minderheit sind. Vgl. hierzu die Stellungnahmen von Franz Böckle (1984), Franz Furger (1982), Erich Grässer (1983, 1984), Joseph Höffner (1983), Rolf Krapp (1980, 1986), Gerhard Liedke (1985), Andrew Linzey (1976, S. 47-57), Joseph Miller (1953/54), G. E. Paget (1975), Otto Schaefer (1981) und Hans-Bernhard Wuermeling (o. J.). Vgl. auch —> Kirche und Tierschutz.

(2) Der andere Ausweg, den Forderungen des Gleichheitsgrundsatzes zu entgehen, besteht im Rückgriff auf eine ungerecht praktizierte —> Güterabwägung. Ungerecht deshalb, weil man bisher einfach davon ausgegangen ist, daß Leben und Wohlbefinden des Menschen Vorrang vor den gleichen Gütern der Tiere hätten. Eine gerechte, d. h. gegenüber Menschen und Tieren gerechte Abwägung könnte den T. nur dann rechtfertigen, wenn er mit einem Gewinn an Leben und Wohlbefinden für beide verbunden wäre; eben dies ist aber höchst fraglich. Unter dem Stichwort —> Verantwortung I wurde C. F. Weizsäcker mit dem Satz zitiert: „Hygiene und Medizin wollten Leben retten und erzeugten die Bevölkerungsexplosion. Die Medizin hat nicht nur Leben verlängert und Leiden gemindert, sie hat auch eine erhebliche Zunahme des allgemeinen Siechtums und Altersschwachsinns mit sich gebracht (vgl. —> Lebenserhaltungsprinzip V und VI.

(3) T., die nicht in befriedigender Weise verantwortbar sind, verstoßen nach Robert Spaemann (1979) gegen die —> Menschenwürde (Belegzitat beim Stichwort —> Kantische Position).

VII. Die Diskussion wird also auch weiterhin kontrovers bleiben, und trotz unüberbrückbarer Gegensätze muß der Gesetzgeber nach Kom- promissen suchen. Der Ethiker kann sie nicht billigen, solange sie mit Abstrichen am eigentlichen Seinsollenden verbunden sind, aber er muß trotzdem darauf hinwirken, daß eine Annäherung vom Ist-Zustand in Richtung auf den Soll-Zustand erfolgt. Dabei sollte unstrittig sein, daß ethische Forderungen immer nur bruchstückhaft in gesetzliche Vorschriften oder Verbote einmünden können, denn ethische Normen unterscheiden sich von Gesetzesnormen gerade durch ihre weiterreichende Strenge und den Umstand, daß ihre Befolgung oder Nichtbeachtung in die persönliche Verantwortung des einzelnen Bürgers fällt. Das heißt allerdings nicht, daß sich das Recht etwa generell von der Moral emanzipieren dürfte; vgl. –> Moral und Recht.

VIII. Trotz uneingeschränkter Forderung nach —> Gerechtigkeit müs- sen wir in allen Lebensbereichen mit dem Unrecht leben, auch in Bezug auf das Umgehen mit der Natur. Daran kann auch der Ethiker nichts ändern, er ist nur dazu verpflichtet, das Unrechtsbewußtsein wachzuhalten, indem er das Seinsollende immer wieder und ohne Abstriche darstellt. Nur so kann er auch die Partner politisch zu erzielender Kompromisse beraten, indem er die Möglichkeiten aufzeigt, das bestehende und in seiner Schwere anzuerkennende Unrecht auf jede nur mögliche Weise, d. h. auch unter Opfern zu vermindern. Dabei sollte hinsichtlich der verschiedenen Tiernotstände durchaus eine Gewichtung vorgenommen werden, etwa nach der unter Stichwort —> Güterabwägung IV zitierten Abwägungsrichtlinie.

Wir leben in einer Zeit, in der die Verantwortung des Menschen für die Natur und seine belebte Mitwelt in ihrer Gewichtigkeit gerade erst erkannt wird, und der heute noch übliche Umgang mit dem Tier könnte vielleicht schon in einigen Jahrhunderten ähnlich verurteilt werden wie früher die Sklaverei. Hans Jonas hat diesen Gedanken der rückwirken- den Verantwortung (1979, S. 391) so ausgedrückt: „Immer muß der Wissende darauf gefaßt sein, später einmal wünschen zu müssen, er hätte nicht oder anders gehandelt.” Das heißt für unser Thema: Denken diejenigen, die den Tierschutz in seiner derzeitigen Form für ausreichend halten, daran, wie man in fünfzig Jahren über ihre heutigen Stellungnahmen urteilen wird, was ihre Enkel davon halten? Selbstverständlich wäre es ungerecht, eine Handlung ausschließlich im nachhinein zu beurteilen; es muß immer gefragt werden, ob ein ethischer Fortschritt im Denkhorizont der jeweiligen Zeit deutlich genug gefordert war. Zustände und Mißstände sind immer nur auf einem sie begünstigenden geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund und einem sie tolerierenden Moralstandard möglich: die Schuld auf einzelne Berufsgruppen abzuwälzen, wäre also ungerecht. Wenn es hier Schuldige gibt, dann unter denen, die zwar für ethische Fragen Zuständigkeit beanspruchen, aber dennoch beharrlich geschwiegen haben, wo sie im Namen der Humanität und Gerechtigkeit hätten reden müssen; vgl. —> Verantwortung, Verantwortungsethik.

IX. Für die Forschung im Bereich der Ethik der T. hat die Stiftung Fonds für versuchstierfreie Forschung in Zürich eine wissenschaftliche Dokumentationszentrale eingerichtet. Ein jährliches Verzeichnis der einschlägigen Veröffentlichungen informiert über den jeweils erreichten Stand der Diskussion. Die Stiftung hält Kontakt zu interessierten Wissenschaftlern und fördert zugleich die Erforschung wissenschaftlicher Alternativmethoden, durch die T. ersetzt, eingeschränkt oder für die betreffenden Tiere erleichtert werden können; vgl. hierzu auch —> Arzneimittelerprobung VI.

X.Die Durchführung der T. ist in der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz gesetzlich geregelt. Außerdem hat das Ministerkomitee des Europarates am 31.5.1985 das „Europäische übereinkommen zum Schutz von Wirbeltieren, die für Versuchs- und andere wissen- schaftliche Zwecke verwendet werden”, verabschiedet und den Mitgliedstaaten zur Annahme empfohlen. In der EG wurde am 24.11.1986 die Richtlinie des Rates zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere verabschiedet. Wie meistens bei europäischen Regelungen, handelt es sich auch hier um Minimalforderungen unterhalb der in einigen Ländern erreichten Standards.

(1) In der Bundesrepublik lassen die Vorschriften der Novelle von 1986 (§§ 7-9a) die Absicht zu einer quantitativen und qualitativen Begrenzung der T. erkennen. Ob sich die damit verbundenen Erwartun- gen erfüllen, bleibt abzuwarten. Jedoch wird die Absicht des Gesetzgebers sowohl durch die -> öffentliche Meinung wie auch die wachsende Sensibilität der Wissenschaftler selbst unterstützt. In Einzelfragen müssen auch die Kommentare von Ennulat/Zoebe (1987) und Albert Lorz (1987) noch abgewartet werden.

(2) In Österreich ist noch immer das „Bundesgesetz vom 7.3.1974 betreffend Versuche am lebenden Tier (Tierversuchsgesetz)” in Kraft. Es orientiert sich im wesentlichen an den Vorschriften des deutschen Gesetzes von 1972. Vgl. -> gesetzlicher Tierschutz III.

(3) In der Schweiz werden T. in den Artikeln 12-19 des Gesetzes von 1978 und in den Artikeln 58-64 der Tierschutzverordnung geregelt. Für die Tierschützer war das Ergebnis ein unbefriedigender Kompromiß. So hat die Kritik am Ungenügen des Gesetzes schon gleich nach der Verabschiedung (vgl. -> gesetzlicher Tierschutz II) eingesetzt. Zu den derzeit geltenden Regelungen s. A.F. Goetschel (1968, S. 99-102).

Weitere Literatur: Allgeier 1980, J. Fiebelkom und N. Lagoni 1984, M. Fox 1980, S. 105-135, W. Gehrke und R. Wiezorrek 1982, Chr. von Greyerz u. a. 1986, U. M. Händel 1984, W. Hardegg und G. Preiser 1986, K. Kübler 1980, T. Regan 1982, S. 61-74,1983, S. 363-394, P. M. Ronner 1981, R. Ryder 1975, O. Schaefer 1981, F. Schenk 1985, P. Singer 1982, S. 45-176, D. Sperlinger 1981, H. Stern 1979, G. M. Teutsch 1979b, 1983b, 1986a, b und c, Tierexperimentelle Forschung und Tierschutz 1981, Tierversuche 1983, Tierversuche in der Diskussion 1985, K. J. Ullrich und D. O. Creutzfeldt 1985, I. Weis 1980, 1983, J. C. Wolf 1985.

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