Die moderne Tierschutzgesetzgebung enthält grundsätzliche Forderungen zugunsten der Tiere. Dadurch wird die traditionelle Verfügungsmacht des Menschen gegenüber früher eingeschränkt; aber diese Einschränkung begann erst im letzten Jahrhundert und erfolgte in einigen jeweils nur kleinen Schritten —> Tierschutz. Der grundsätzliche —> Konflikt zwischen dem Tierschutz und den –> Interessen des Menschen bleibt jedoch bestehen. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber die allgemeine Intention „Schutz des Lebens und Wohlbefindens des Tieres” (§1, Satz 1 des deutschen Gesetzes) bzw. „Schutz und Wohlbefinden” der Tiere (Art. 2 Abs. 3 des schweizerischen Gesetzes) durch allgemeine Ausnahmeregelungen so eingeschränkt, daß alle wesentlichen Interessen des Menschen gewahrt bleiben. Im deutschen Gesetz lautet die Einschränkung: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.” Oder, wie man logischerweise auch sagen kann: Jedermann darf einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, wenn er dafür einen vernünftigen Grund hat. Erst in dieser Formulierung wird der permissive Charakter dieser so tierschützerisch klingenden Regelung deutlich. Die schweizerische Fassung dieser Ausnahmeermächtigung lautet etwas anders, nämlich: „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es in Angst versetzen” (Art. 2 Abs. 3). Es wird also ein Rechtfertigungsgrund verlangt, an den aufgrund der Rechtstradition gewisse Anforderungen gestellt werden. „Rechtfertigungsgründe”, so Ueli Vogel (1980, S. 193), „beruhen auf der Überlegung, daß die Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsgutes – hier das Interesse des Tieres an der Wahrung seiner physischen und psychischen Integrität – um eines höheren Wertes willen hingenommen werden muß”. Im einzelnen kommen nach Vogel folgende Rechtfertigungsgründe in Frage: (1) außerstrafrechtliche Gründe, insbesondere -> Notwehr, (2) außerstrafrechtliche Gründe, wie Abwehr, oder (3) über- gesetzliche Rechtfertigungsgründe, insbesondere die Wahrnehmung berechtigter —> Interessen. Dieser letzte Punkt „Wahrnehmung berechtigter Interessen” wird dann, um die vom Gesetz geduldete Wirklichkeit nicht als gesetzwidrig erscheinen zu lassen, sehr weit gefaßt; vgl. hierzu auch A. F. Goetschel (1986, S. 34).
Der deutsche Gesetzgeber hat nicht ausgeführt, was er unter einem V.G. versteht; aber man sollte annehmen dürfen, daß er alle nicht vernünftig begründbaren und zugleich gravierenden Eingriffe in Leben und Wohlbefinden der Tiere verbietet und alle von ihm selbst ausdrücklich erlaubten Eingriffe als durch gute Vernunftgründe gerechtfertigt ansieht. Wenn man nun aber alle im Gesetz ausdrücklich erlaubten oder nicht verbotenen Formen der -> Tierquälerei, also das Zufügen von -> Schmerzen, -> Leiden oder -> Schäden auflistet, dann ist eine innere Konsequenz, d. h. eine Kohärenz des ethischen Maßstabes kaum zu erkennen. Wenn das Konzept des V.G. mehr sein soll als formal kaschierte Willkür, dann müßte das Verbot tierquälerischer Handlungen, die mit —> Luxus- und Freizeitvergnügen zu tun haben, in besonders nachdrücklicher Weise ausgesprochen werden. Und obwohl beide Kirchen (-> Kirche und Tierschutz) anläßlich der Anhörungen zur Novelle von 1986 dies verlangt haben, enthält die Neufassung noch nicht einmal einen Versuch, solche Ausnahmen wenigstens in den schlimmsten Auswüchsen zu beschränken.
Es ist also schwierig, die Kriterien des V.G. auf induktivem Wege aus dem Gesetz herauszulesen. K.1. Ennulat und G. Zoebe (1972, S. 41) kommentieren so: „Verfehlt ist wohl eine rein subjektivistische Auslegung des Begriffes ,vernünftig’ in dem Sinne, daß eine Beeinträchtigung als gerechtfertigt gilt, die dem die Beeinträchtigung hervorrufenden Menschen als vernünftig, als seiner persönlichen Auffassung nach zweckmäßig und ihm oder seinen Interessen dienend erscheint …
Aus diesen Gründen wird es nach wie vor notwendig sein, den zulässigen Rechtfertigungsgrund nach dem Güterabwägungsprinzip festzustellen. Es handelt sich hierbei um einen Grundsatz, der unsere gesamte Rechtsordnung durchzieht. Demjenigen, der eine ein Tier beeinträchtigende Handlung vornimmt, wird als vernünftiger Grund nur dann eine Rechtfertigung seines Handelns zuzuerkennen sein, wenn eben dieses Handeln aus Gründen des Schutzes eines höherwertigen Rechtsgutes gegenüber dem geringerwertigen Rechtsgut geboten ist.”
A. Lorz kommentiert (1979, S. 255-276) in Anlehnung an die Straf- und Bußgeldvorschriften und befaßt sich dabei ausführlich mit dem V.G. als „Rechtfertigung tierschutzwidriger Handlungen”.
Hier kann auch das ethische Bewußtsein eine gewisse Rolle spielen, und wenn es einen Grund gibt, Formulierungen wie den V.G. trotz allem zu akzeptieren, dann weil er durch sein Interpretationspotential dem sensibler werdenden —> Wertbewußtsein der Gesellschaft Ausdruck verleihen kann. In diesem Zusammenhang wird dann auch deutlich, ein wie hohes Maß an —> Verantwortung die für ethische Fragen zuständigen Wissenschaftler und Institutionen haben. Denn sie sind es, die dem gebildeten, für den Gedanken des Tierschutzes aufgeschlossenen und einem ethischen Fortschritt zugänglichen Bürger (vgl. A. Lorz 1979, S. 260) die Anforderungen vermitteln, die an einen V.G. zu stellen sind, der Ausnahmen von den Vorschriften des Tierschutzes rechtfertigen kann. Wie sehr sich dann auch das Rechtsempfinden ändern und wie konkret es sich auswirken kann, ist an verschiedenen Urteilen im Bereich des —> Naturschutzes inzwischen deutlich erkennbar.
Die Rechtswissenschaft hat sich mit der Frage des V.G. kaum befaßt. Darum ist es zulässig, sich auch auf außerjuristische Definitionen zu berufen, etwa auf Kant, wie E. von Loeper (1979, S. 77), oder auf das Vernunftprinzip von Günther Patzig (–> Goldene Regel), das unmittelbar in ethische Überlegungen einmündet. Vernunft ist jedenfalls mehr als Wissen. Bernhard Hassensteindefinierte auf dem Ethologenkongreß 1986 in Hamburg so: „Vernunft ist Verstand auf Menschlichkeit bezogen” (Vitus Dröscher: Kaputtmacher der Vernunft, Die Zeit Nr. 42, 1986). Es gibt aber auch eine sehr spezielle Untersuchung von Hans Albert Schwarz-Liebermann von Wahlendorf: „Was heißt ‚vernünftig’ in der Perspektive juristischen Denkens?” Der Autor zieht darin eine Linie von der Vernünftigkeit zur —> Gerechtigkeit und von da weiter zu den Fragen nach Gleichheit und Verschiedenheit (—> Gleichheitsgrundsatz).
Es wäre lohnend, das Nachdenken über ein solches System zu vertie- fen und dabei auch alle anderen Versuche zu berücksichtigen, die darauf abzielen, den Begriff des V. G. zu präzisieren oder so zu verschärfen, daß sich dadurch höhere Anforderungen an die Rechtfertigungsqualität ergäben. Dabei ist sicher, daß die Vernünftigkeit nur dann gegeben ist, wenn der jeweils vorgebrachte Grund so gewichtig ist, daß er die Abweichung von der gesetzlichen und ethischen Norm wirklich rechtfer- tigt, erlaubt, duldet oder zumindest entschuldbar macht (—> Rechtfertigung). Diese Differenzierung des Zulässigen hätte immerhin den Sinn, das abwägende —> Wertgefühl des handelnden Menschen zu schärfen, den Übergang vom Gesollten über das Erlaubte und noch Geduldete bis hin zum Unzulässigen und ausdrücklich Verbotenen hin deutlich zu machen.
Für eine strengere Auffassung vom V.G. kann man jedenfalls Albert Schweitzer (-> Ehrfurcht vor dem Leben) in Anspruch nehmen, der als Ent- schuldigungsgrund nur die Situation einer „grausigen” (Werke 2, S. 387) oder „unentrinnbaren” (Werke 1, S. 243) —> Notwendigkeit akzeptiert; gerechtfertigt ist für Schweitzer nur das Töten aus Liebe, um ein Tier aus seiner Qual zu erlösen. In der gleichen Absicht, die Bedeutung des V.G. zu verschärfen, spricht die Deutsche Bischofskonferenz auch ausdrücklich von „ernsten Gründen” (vgl. -> Kirche und Tierschutz IV), die vorliegen müssen, um eine Abweichung von der Tierschutznorm zu ermöglichen. Entsprechend hat der Deutsche Tierschutzbund in sei- nem eigenen Novellierungsentwurf verlangt, im Gesetz nicht einen vernünftigen, sondern einen „zwingenden Grund” vorzusehen. An der ethisch fragwürdigen Situation, daß der Mensch sich keine konkret bindenden Grenzen, sondern nur allgemeine und sozusagen mit Gum- mischnüren gezogene Grenzen setzt, die er fast beliebig verändern kann, ändert die Terminologie aber nichts. Das ist ja gerade eine besondere Schwäche des Gesetzes, daß es immer da starke Ausdrücke verwendet, wo sie unpräzise und in der Wirkung unkontrollierbar bleiben, wie etwa auch der Begriff -> unerläßliches Maß. Nur wenn der V.G. an das Erfordernis der -> Gerechtigkeit gegenüber Mensch und Tier gebunden und so der Willkürentscheidung des Menschen entzogen wäre, könnte er seine Funktion als Begrenzung der bisher weitgehend üblichen Beliebigkeit erfüllen.
Weitere Literatur: F. Hurnik und H. Lehman 1982, G. M. Teutsch 1983, S.103-111.