Widerstände und Hemmnisse

Wenn man sich die weltweit betriebene —> Tierquälerei vergegenwärtigt und so den Ist-Zustand der —> Mensch- Tier-Beziehung mit den Forderungen der -> Tierschutzethik vergleicht, kann man sich das Fortdauern des Ist-Zustandes nicht erklären. Ist die Bosheit der Menschen wirklich so groß? Sicher nicht, denn vermutlich erfolgen 90% aller Mißhandlungen aus Gedankenlosigkeit oder nach einer seit frühester Kindheit erlernten Verdrängung. Ehe das Kind überhaupt eine Chance hat, seine angeborene Affinität zum Tier (—> Kinder und Tiere) bewußt zu erleben und in artübergreifende —> Humanität weiterzuentwickeln, wird es an die Selbstverständlichkeit des Fleischessens gewöhnt. Und damit es nicht rebellieren kann, wird ihm die grausige Wirklichkeit so lange vorenthalten, bis es „vernünftig” geworden ist und aus inzwischen erworbener Abhängigkeit von der anerzogenen Geschmacksrichtung nicht mehr aufbegehrt. Auch die spätere —> Tierschutzerziehung kann hieran in der Regel nichts mehr ändern.

Hinzu kommt, daß die Naturgeschichte den Menschen ja als Sammler und Jäger kennt, aus dem sich dann ein professioneller Ausbeuter entwickelt hat, der sein Tun auch noch mit einer eigenen —> Benutzungstheorie rechtfertigt. Gegen diese seit dem Entstehen unserer Spezies im- mer mächtiger werdende Verhaltensprogrammierung oder mindestens —> Einstellunganzugehen, ist sicherlich ein gewaltiges Unterfangen, gewaltiger als alle anderen Errungenschaften und annäherungsweise nur mit der Abschaffung der Sklaverei zu vergleichen. Und wenn man weiter bedenkt, daß im Abendland das tierschützerische Bemühen erst seit knapp 200 Jahren in einer die eigene Artgrenze überschreitenden Humanität zum Ausdruck kommt, dann wundert man sich nicht mehr, daß die Forderung nach –> Gerechtigkeit und Ausweitung des —> Gleichheitsgrundsatzes auf die Beziehung zum Tier erst seit einigen Jahren erhoben wird. Kein Wunder auch, daß es nur eine Minderheit ist, die sich zu solchen Forderungen bekennt und nun die überwältigende Macht des Faktischen in dieser Welt als Widerstand erlebt. Und auch wenn man den –> Naturalismus ablehnt: mit dem in uns angelegten —> Artegoismus muß man rechnen.

Darum ist es eine wichtige Aufgabe des —> Tierschutzes, dies den Menschen bewußt zu machen, sie aus ihrer Gedankenlosigkeit und den Verdrängungsmechanismen herauszuholen, auch wenn das Leben der bewußten —> Tierschützer dann zunächst in eine Krise gerät. Schon Albert Schweitzer sagte (Werke 2, S. 383): „Resignation ist die Halle, durch die wir in die Ethik eintreten.”

Niemand hat die schreckliche Wirkung der Gleichgültigkeit gegenüber den Forderungen der Humanität eindrucksvoller beschrieben, als Max Horkheimer in seinem bezeichnenderweise kaum bekannt gewordenen Aufsatz „Erinnerung” (1959):

„In totalitären Staaten herrscht der Schrecken. Ohne daß ihnen ein Verbrechen nachgewiesen wäre, werden Menschen gefangengehalten, gefoltert, barbarisch ermordet. Je weiter die materiellen und die geistigen Kräfte solcher Staaten entwickelt sind, desto geheimer müssen die Schandtaten sich vollziehen, besonders dort, wo hinter den Machthabern keine fremden Kanonen stehen. Der Fanatismus geriete ins Stocken. Wenn nicht aus Solidarität mit den Opfern, so doch aus genuiner Achtung vor dem Leben würden viele von der Herrschaft sich abwenden, die die verborgenen Mittel kennen, durch die sie sich fortsetzt. Aber, wenn sie es auch ahnen, so wissen sie es doch nicht, und so lange wird ihnen die Lüge eingehämmert, bis sie es nicht einmal mehr ahnen und nach dem Sturz der Herrschaft sagen dürfen: wir haben es nicht geahnt.

Fern von Deutschland wartete ich vor Jahren nachts auf einem Bahnhof. Auf einem Gleis weit draußen stand ein Zug mit brüllendem Vieh. Er war schon lang gefahren, und das Schlachthaus war noch fern. Der freundliche Beamte erklärte mir, die Wagen seien eng bepackt und die Stücke, die bei der rüttelnden Fahrt gestürzt seien, lägen unter den Hufen der andern. Die Türen könnten nicht geöffnet werden, das Vieh erhalte kein Wasser auf dem Transport. Er dauere manchmal viele Tage. Auf die Frage, ob eine Änderung möglich sei, meinte er, das entscheide wohl die Kalkulation. Wenn der Verlust durch die Anzahl beim Transport verendeter Tiere die Kosten für zusätzliche Wagen und fürs Tränken übersteige, stehe eine pfleglichere Behandlung in Aussicht. übrigens sei Verschickung durch die Bahn noch human; bei Kraftlastwagen gingen mehr Tiere ein; sie würden zertrampelt. Das war bei Nacht in doppeltem Sinn, denn nur wenige wissen davon. Würde es sich ändern, wenn es alle wüßten? Ich zweifle daran.

In Deutschland, in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, hörte ich bei einem berühmten Professor Physiologie. Es war ein großes Kolleg, und wir waren viele Studenten. Manche Ausführungen waren von Demonstrationen begleitet. Im ersten Teil des Semesters war eine Katze so festgeschnallt, daß sie ihren Kopf nicht bewegen konnte. Eines ihrer Augen war gewaltsam aufgerissen und ein starker elektrischer Lichtstrahl fiel hinein. Die Studenten wurden langsam vorbeigeführt, um sich zu überzeugen, daß der Hintergrund des Auges phosphoreszierte, wie der Professor behauptet hatte. Im zweiten Teil des Semesters war ein Hase gefesselt. Auch er konnte den Kopf nicht bewegen. Der Schädel war aufgemeißelt, und die halbe Hirnschale lag frei. Jedesmal, wenn ein Student vorbeikam, berührte der Professor eine oder die andere Stelle des Gehirns, um zu zeigen, daß dadurch ein Glied des Tieres zuckte, also mit jener Stelle verbunden war. Im dritten Teil brachte der Professor sechs Tauben ins Kolleg. Das Gehirn war ihnen herausgenommen. Er ließ sie im Auditorium flattern, um unzweideutig darzutun, daß sie die Orientierung verloren hatten. Der Beweis gelang. Der Professor war ein hochkultivierter Mann. Neben seinem eigenen Gebiet hatte er in anderen Disziplinen, nicht zuletzt in der Philosophie, durch seine Werke Ansehen gewonnen. Er war Kunstsachverständiger und praktizierender Musiker. Was den Tieren geschah, ahnte er nicht bloß, wußte er nicht bloß, er tat es. In wievielen Semestern es sich wiederholte, welche weiteren Demonstrationen sonst noch geboten wurden, weiß ich nicht. Doch geschieht es auch heute, daß Studenten ihre Arbeiten von den Lehrern zurückerhalten, weil nicht genügend Tierexperimente darin nachgewiesen sind.

Ich kenne eine gescheite, moralische Frau. Sie wäre, wie man so sagt, zu keiner unanständigen Handlung fähig. Ihr Schicksal hat es mit sich gebracht, daß ihr ein Beruf ermöglicht wurde, in dem Experimente an lebenden Tieren Routine sind. Meine Frage, ob Unempfindlichkeit so weit wie möglich verbürgt sei, erwiderte sie durch ein leises Nein. „Ich kann aber dort nicht weggehen”, fügte sie als Erklärung auf die nächste, nicht geäußerte Frage hinzu. Sie hätte ihr Brot verloren. Sie tat es um der Laufbahn willen, wenngleich sie es mißbilligte. Jetzt ist sie avanciert und braucht es nicht mehr auszuführen. Sie muß es anordnen. Wahrscheinlich versucht sie sogar, es zu mildern. Die Kraft zum Widerstand findet sie nicht. Vor der allmächtigen Gleichgültigkeit der Gesellschaft muß ihr das Opfer, das ihre Familie mitbeträfe, als sinnlos erscheinen. An ihrer Stelle spränge sogleich ein anderer ein. Sie ist bloß müde und resigniert. Die geistige Atmosphäre wird durch Zeitung, Rundfunk, Fernsehen und zahllose andere Mittel der Meinungsbildung bestimmt. Wer möchte die Stimme des einzelnen, der sich zum Sprecher der Tiere macht, gegen die massiven Interessen ihrer Herren sich durchzusetzen? Es ist kein Terror gegen die Menschen nötig, damit sie den unnöti- gen gegen die Tiere dulden; die Gewohnheit tut das ihre von selbst. Die Steigerung der Lebenserwartung und des Lebensstandards, der Güter höchstes in der automatisierten Welt, soll alles rechtferigen, nicht bloß das zweckbedingte, sondern das zusätzliche, sinnlose, fahrlässige Leiden der Kreatur, das in den Verliesen des Gesellschaftsbaues angerichtet wird. Solchem Fortschritt angemessener als der offizielle Optimismus ist noch die Trauer jener Frau, die ihre Schuld nicht vergessen kann.

Die Art, wie die moderne Menschheit ihr zusätzliches Leben erkauft, die fieberhafte Herstellung von zweifelhaften Luxusgütern und unzweifelhaften Zerstörungsmitteln, die Genialität der Produktion, die keine Zeit zum Denken läßt, drückt dem so Gewonnenen rückwirkend den Stempel auf. Mit aller Findigkeit und Raschheit, allem wunderbaren Scharfsinn zieht die Gesellschaft durch die skrupellose Vergewaltigung dessen, was draußen ist, zugleich Stumpfheit und Borniertheit, Leichtgläubigkeit und Anpassungsbereitschaft ans jeweils Mächtige und Zeitgemäße als herrschende Gemütsverfassung groß. Zwischen der Ahnungslosigkeit gegenüber den Schandtaten in totalitären Staaten und der Gleichgültigkeit gegenüber der am Tier begangenen Gemeinheit, die auch in den freien existiert, besteht ein Zusammenhang. Beide leben vom sturen Mittun der Massen bei dem, was ohnehin geschieht. Wen die Welt dazu gebracht hat, bloß vor sich hin zu blicken und der allgemeinen Suggestion zu gehorchen, wer nicht gelernt hat, Erfahrungen über den Bereich des eigenen Nutzens hinaus zu machen, der ist inmitten der Freiheit unfrei, und nur von den Umständen hängt es ab, wenn er der äußeren Unfreiheit verfallen wird. Davon, daß der Widerspruch zwischen theoretischer Humanität und praktischer Barbarei überwunden wird, der diese Zivilisation wie eine schändliche Krankheit durchzieht, um so schändlicher, je gewaltiger der Reichtum und die Fähigkeiten sind, hängt es ab, ob der technische Fortschritt zu einer höheren Gestalt der menschlichen Zusammenarbeit führt. Die größeren Mittel der Gesellschaft fordern größere moralische Differenziertheit. Mitleid ist nicht genug, und es gibt eine Tierliebe, die keinen anderen Grund hat als den Menschenhaß. Die Empörung gegen das inmitten der Gesellschaft pausenlos begangene Übermaß an Folterung entspringt vielmehr der Abneigung gegen das Glück, das durch erbärmliche Mittel erkauft ist, der Empfindsamkeit gegen Niedertracht, der Generosität, die zu wirklicher Kraft gehört. Dem Leben, das der raffinierten Quälerei des Schwachen sich verdankt, haftet selber die Schwäche an. Es wird sich gegen primitivere, brutalere menschliche und außermenschliche Kräfte schließlich nicht mehr behaupten können. Die Kultur des Professors, der zum Gaudium die geschändeten Tauben flattern ließ, ist schon der Hohn auf Kultur, und die Studenten, die ihm folgen, können sie nicht verteidigen.”

Keine weitere Literatur.

Copyrights © 2024 Erna-Graff-Stiftung. All Rights reserved.