Der Begriff wurde vermutlich zuerst von Konrad Lorenz (1954) eingeführt. Er wählte diese Bezeichnung für das bei vielen sozialen Tieren zu beobachtende Schonungsverhalten gegenüber Artgenossen, eine „Humanisierung” des Kampfverhaltens, die der Mensch bisher noch nicht in ausreichendem Maße gelernt hat. Inzwischen wird der Begriff des M. V. auch auf andere Bereiche ausgedehnt, insbesondere die aufopfernde Sorge für die Jungen. Weniger bekannt sind Leistungen wie: Geburtshilfe, Rettung verwundeter Artgenossen, Respektierung fremden Eigentums und fester Paarbeziehungen.
I. Die in einer Tier-Sozietät geltenden Normen bestehen aus einem System angeborener und erlernter Verhaltensweisen, wobei die erlernten Verhaltensweisen oft in Konkurrenz zum angeborenen Verhalten stehen, also das Triebverhalten korrigieren und einengen. Die Übermittlung der erlernbaren Verhaltensregeln erfolgt durch eine hierarchisch organisierte Weitergabe an die jeweils heranwachsende Generation. Dabei ist der Bereich des Lernbaren begrenzt und die Möglichkeit des Lernens sozialer Verhaltensweisen durch einen von Art zu Art unterschiedlich ausgeprägten Sozialtrieb angelegt. Das einzelne Tier ist also nicht frei, ob und was es lernen will und oder nicht, sondern es bleibt in einen Lernzwang eingebettet, der jedoch unterschiedliche Abweichungen und neue Entwicklungen z. B. in der Art von Traditionsbil- dung zuläßt. Tierkinder und Jungtiere bringen also — wie das Menschenkind auch — angeborene Triebe und Verhaltensweisen mit, und beide lernen im Sozialisationsprozeß von ihrer jeweiligen Erwachsenen-Umwelt.
Soziale Hilfeleistung kann auch Formen koordinierter Aktionen an- nehmen, wie bei einer Gnu-Herde, die jedes Neugeborene kollektiv verteidigt (Vitus Dröscher1968, S. 93 f.), oder wie Delphine, die verwundete Artgenossen unterschwimmen und zum Atmen an der Wasser-oberfläche halten. Die bis in die Antike zurückreichenden Berichte, daß auch Menschen auf diese Weise gerettet wurden, hält H. Hediger (1965 a, S. 97) für zuverlässig. Diese und ähnliche Aktionen sind um so erstaunlicher, als Kranke und Verletzte bei verschiedenen Tierarten ausgestoßen oder sogar getötet werden.
II. Noch überraschender ist, daß Tiere vieler Arten gegenüber Artgenossen und Menschen zu „Lug und Trug” befähigt sind. Friedrich Kainz lehnt es zwar ab, bei Tieren von Lügen zu sprechen, aber auch er räumt ein, daß man ohne Sprache ebensogut lügen kann (1961, S.141). So wird immer wieder von irreführenden Alarmsignalen berichtet, um lästige Konkurrenten am Futterplatz zu verjagen (Wickler 1972, S. 133 f.). Aber auch im Bereich der Sexualnormen gibt es Übertretungen, wie Friedrich Kainz (1961, S. 147) an einer pavianesischen „Frau Potiphar” nachweist.
III. Von seinem Hund Wolf I. berichtet Lorenz (1971, S. 116), daß er kein Tier verletzt habe, sofern „er nur wußte, daß das betreffende Wesen unserem Tierbestand angehörte”. Die dazu notwendige Unterweisung des Hundes beschreibt Lorenz anschließend so: „Ich rief meinen Hund . . an die Transportkisten, stieß ihn mit der Nase sanft auf die Fasane, versetzte ihm ein paar leichte Klapse und äußerte dazu drohende Worte” (S. 117). Trotzdem kam es später zu einem Konflikt, als der Hund einem wilden Fasan gleicher Art begegnete. Lorenz beschreibt diese Episode so: „Ich kam an einem schönen Frühlingsmorgen in den Garten und sah, erstaunt und empört, meinen prächtigen Wolf inmit- ten der Wiese stehen, einen Fasan im Fang! Der Hund hatte mich nicht bemerkt, so daß ich ihn ungestört beobachten konnte. Wolf schüttelte weder den Fasan, noch tat er sonst etwas, er stand nur still da, mit dem Vogel im Maul und merkwürdig ratlosem Gesicht. Als ich ihn anrief, zeigte er keine Spur schlechten Gewissens, sondern kam, die Rute erhoben und den Vogel noch immer im Maul tragend, auf mich zu. Da sah ich, daß er einen wilden Jagdfasan gefangen hatte, also nicht einen unserer freilaufenden Gold- oder Silberfasane. Offensichtlich hatte sich der hochintelligente Hund in einem schweren Gewissenszweifel befunden, ob dieser eine, in unseren Garten eingedrungene Jagdfasan zu den geheiligten Tieren zähle oder nicht. Er hatte ihn wahrscheinlich zuerst für rechtmäßiges Wild gehalten und gefangen, dann aber, vielleicht weil der Geruch an verbotene Hühnervögel erinnerte, ihn nicht getötet, wie er es sonst mit jeder Jagdbeute getan hätte. Wolf war daher sogleich bereit, mir die Entscheidung zu überlassen, merkbar erleichtert, dies tun zu können. Der Jagdfasan, der völlig unverletzt war, hat jahrelang in einem unserer Flugkäfige überlebt . . .” (S. 112). An diesem Beispiel des m. V. wird deutlich, wie schwer manche Übergänge von tierlichem —> Verhalten zu menschlichem —> Handeln abzugrenzen sind.
IV. Das m. V. der Tiere hat die Menschen seit eh und je beeindruckt. Aber während man früher der Meinung war, in diesem Verhalten käme vorweggenommene Menschlichkeit zum Ausdruck, wissen wir heute, daß unsere Humanität auf vormenschliches Erbe zurückgeht, das sich im Interesse der Arterhaltung insbesondere bei der Brutpflege und im Sozialleben entwickelt hat. M. V. ist immer auf die Artgenossen oder Symbionten beschränkt, so wie auch menschliche —> Moral bis zur Entwicklung artübergreifender —> Barmherzigkeit und —> Humanität als innerartliche Gruppenmoral verstanden werden muß, d. h. als artbegrenzte Mitmenschlichkeit, nicht als artübergreifende Menschlichkeit oder gar Mitgeschäpflichkeit. Mitmenschlichkeit ist prinzipiell nichts anderes als jede Form innerartlicher „Mit-Tierlichkeit” auch. Das heißt bei F. Steinbacher (1967): „Der Entschluß zur Mitmenschlichkeit liegt je- denfalls tief im Animalischen verankert.” Mit anderen Worten: solange unsere —> Ethik die Beziehung zu den Mitgeschöpfen ausklammert, hat sie ihre spezifische Menschlichkeit noch nicht erreicht.
M. V. der Tiere und moralisches Handeln des Menschen ist von der vergleichenden —> Ethologie mehrfach untersucht worden, besonders ausführlich von Wolfgang Wickler (1972), der seinem Buch den Titel „Die Biologie der Zehn Gebote” gab. M. V. unterscheidet sich von menschlicher Moral in verschiedener Hinsicht, und zwar einmal durch Begrenzung des Repertoires auf arterhaltendes Sozialverhalten und anderer- seits auf die Freiheit des Menschen, sich auch sozialschädigend zu verhalten. Im übrigen können wir auch beim Menschen neben bewußtem moralischem Handeln noch viel unreflektiertes M. V. feststellen, das für unser Zusammenleben möglicherweise immer noch wichtiger ist als wir annehmen.
Menschliche Moralität auf ein nur weiterentwickeltes M. V. zu reduzieren und ethische Normen nur evolutionsbiologisch zu begründen, würde die Ethik in einem wesentlichen Punkt auf einen bloßen –> Naturalismus verkürzen.
Weitere Literatur: I. Eibl-Eibesfeldt 1972, S. 107-148, P. Overhage 1972, S. 285-291, F. Rauh 1969, A. Remane 1971, S. 97-100.