Wohlbefindensprinzip

Daß die Tierschutzgesetze der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz den Schutz des Lebens und Wohlbefindens des Tieres in den Mittelpunkt ihres Schutzbestrebens (jeweils in § bzw. Artikel 1) gestellt haben, entspricht der historischen Entwicklung der —>Tierschutzethik, in der zwei Prinzipien erkennbar sind: das W. und das erst viel später akzeptierte -> Lebenserhaltungsprinzip.

I. Nach abendländischer Tradition sind —> Mitleid, —> Barmherzigkeit und artübergreifende –> Humanität auch im Blick auf das Mitgeschöpf die Triebfedern des Tierschutzes. Dementsprechend ging es zunächst auch vorrangig um den Schutz der Tiere vor körperlichem –> Schmerz und seelisch bedingten –> Leiden.

II. Daß höher entwickelte Tiere Schmerzen und Leiden empfinden können, ist unbestritten, denn wenn es ernsthafte Zweifel daran geben könnte, dann hätten dies die betreffenden Wissenschaftler bei den Anhörungen zur Tierschutznovelle von 1986 deutlich sagen müssen. Während also bei Mensch und Tier mit einer ähnlichen Schmerz- und Leidensfähigkeit gerechnet wird, ist die Diskussion über Unterschiede in der Art und Weise des Schmerzerlebens bei der Auseinandersetzung um die –> Tierversuche und die Anwendung des —> Gleichheitsgrundsatzes wieder in Gang gekommen. Wenn man diese Diskussion verfolgt, kommt man zu dem Ergebnis, daß schon Hubert Bretschneider in seiner historischen Untersuchung das Wesentliche gesagt hat und daß die heutigen Stellungnahmen nur wenig neues beizutragen haben. Bretschneider schreibt (1962, S. 120): „Beachtung verdient auch der Hinweis darauf, daß bei den Tieren das ,psychologische Element’ fehle, welches gerade dem Menschen die Schmerzen so unerträglich und qualvoll mache. Das Tier kenne keine Erwartung des Schmerzes, erwäge nicht seine Dauer, habe nicht das Gefühl der Todeserwartung, hadere nicht mit dem Schicksal – kurz es entbehre all der psychischen Qualen, die beim Menschen die rein physischen Schmerzen vervielfachten. – Allerdings wiesen andere Autoren darauf hin, daß die ,fehlende Reflexion’ dem Tier nicht Leiden erspare, sondern im Gegenteil die Qualen noch größer mache als beim Menschen, weil ihm so ,Trost, Hoffnung und Zuversicht’ fehlten.”

(1) Im Verlaufe der neueren Diskussion hat nur Günther Patzig (1986, S. 80 f.) die Meinung vertreten, der Mensch leide infolge seiner rationalen Fähigkeiten schwerer als das Tier. Er schreibt: „Menschliche Leidensfähigkeit ist angesichts des Selbstbewußtseins und des Resonanzbodens von Erinnerung und Zukunftserwartung in ihrer Qualität von der Leidensfähigkeit der Tiere verschieden. Nur der Mensch hat ein Bewußtsein der ständigen Bedrohung seines Lebens durch den Tod, nur er hat ein kulturell vermitteltes Interesse an einem sinnvollen Lebensganzen, einem Plan, der seine ganze Biographie umfassen kann. Nur beim Menschen wird sein Leid vervielfacht durch die Sorge und den Kummer der Angehörigen und Freunde; man denke an das, was Eltern eines unheilbar kranken Kindes durchmachen . .. Es ist daher die qualitative Differenz menschlicher Lebens- und Schmerzfähigkeit gegenüber dem entsprechenden Potential bei den nicht-menschlichen Lebewesen, die als das wichtigste Argument für die Ungleichbehandlung zwischen Menschen und Tieren in Betracht kommt.”

(2) Andere Wissenschaftler haben aus dem gleichen und unstrittigen Sachverhalt der geistigen Fähigkeiten des Menschen den auch bei Bretschneider schon angedeuteten umgekehrten Schluß gezogen, daß Tiere dem Schmerz hilfloser ausgeliefert sind als der Mensch. So schreibt z. B. Bernhard Grzimek (1961) über die Tiere: „Ihre Schmerzen sind viel fürchterlicher als die unseren, denn sie müssen sie blind und dumpf erleiden, sie wissen nicht warum und wofür. Sie haben keinen Trost.” Auch Robert Spaemann hat sich (1979) zu dieser Frage geäußert. Er schreibt: „Die Vernunft hat zwar einerseits eine schmerzsteigernde Wirkung, weil sie vergangenen und künftigen Schmerz sozusagen akkumuliert. Andererseits aber gibt uns Vernunft auch die Fähigkeit der Schmerzdistanzierung und Schmerzbewältigung. Auf dem Weg in die Gaskammern Psalmen singen — das kann kein Tier. Es ist der dumpfen Angst sprachlos ausgeliefert, und seine Angst ist fast immer Todesangst.” Ausführlicher hat sich Otfried Höffe (1984, S. 85 f.) mit dieser Frage befaßt. Hier sein Ergebnis: „Nun könnte man einwenden, das Unterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber dem Tier, die Reflexionsfähigkeit, ergäbe ein neues Verhältnis zum Schmerz, insbesondere ein höheres Maß an Schmerz. Daran ist richtig, daß sich das Verhältnis zu den Schmerzen verändert, falsch, daß die Schmerzen grundsätzlich größer werden. die Reflexionsfähigkeit erlaubt es nämlich auch, ein baldiges Ende abzusehen oder — wie im Fall einer schmerzhaften Heilbehandlung — die Notwendigkeit zu erkennen, was den Schmerz leichter ertragen läßt. Darüber hinaus kann nur der Mensch die Sinnfrage sich stellen, deshalb zwar vor einem als sinnlos erscheinenden Leben verzweifeln, aber ebenso sein Leben ,annehmen’ und kreativ verarbeiten. Mit einem Wort: so sehr die Reflexionsfähigkeit das Verhältnis zu den Schmerzen verändert, so wenig gibt sie ein Argument an die Hand, auf den Schmerz von subhumanen Wesen weniger Rücksicht zu nehmen als auf den von Menschen. So bleibt der Satz gültig: Tieren dürfe kein Schmerz, keine Angst und kein Leiden zugefügt werden — es sei denn, diese hielten sich in den engen und strengen Grenzen eines belanglosen Ausmaßes und einer harmlosen Dauer, die wir auch bei den Menschen tolerieren, oder aber es geschähe aus ethisch und rechtlich unbestrittenen Entschuldigungs- und Ausnahmegründen, wie zum Beispiel in Notwehr oder zur veterinärmedizinischen Diagnose und Therapie.”

(3) Wie von Hefe und Spaemann schon angedeutet, hat das Leiden auch eine theologische Dimension. Helmut Thielicke hat das (1977, S. 64) deutlich angesprochen: „Warum schämen wir uns, wenn wir Tiere töten, mit ihnen experimentieren und sie für uns leiden lassen? Wohl deshalb, weil das Tier nicht ethisch leiden kann. Wir Menschen können unserem Leiden einen Sinn geben. Und auch dann, wenn wir es nicht verstehen — ein Unterschied etwa zum Märtyrer, der gewürdigt ist, sein Leiden verstehen zu dürfen —, wird uns der Schmerz doch eine Schule, in der wir den ,höheren Gedanken’ Gottes vertrauen lernen.” Jedenfalls erscheint Leiden nicht mehr als das größte aller Übel, von dem man sich um jeden Preis loskaufen sollte. Vgl. hierzu auch Franz Böckle (1982) und Justus George Lawler (1965, S. 190).

III. Wichtig ist aber nicht nur, das Erleben und Verarbeiten, sondern auch das Zufügen von Schmerzen und Leiden bei Mensch und Tier zu vergleichen.

(1) Schmerzen und Leiden des Menschen werden in hohem Maße durch ihn selbst oder seine Artgenossen und teils unbewußt, fahrlässig oder schuldhaft verursacht. Bei den Tieren ist das anders, sie leiden ohne eigene Schuld und nur zum kleineren Teil von Artgenossen, sondern vielmehr durch Parasiten und Freßfeinde. Für lange Zeiträume der Naturgeschichte war auch der Mensch für das Tier nur eine Art Freßfeind, der es allerdings nicht nur auf das Fleisch, sondern auch auf Häute und andere Werkrohstoffe tierischer Herkunft abgesehen hatte. Diese vom unmittelbaren Bedarf bestimmte Rolle des Menschen hat sich inzwischen völlig verändert. Der Mensch beutet die Tierwelt nicht mehr nur für den unmittelbaren Bedarf und eigenhändig aus, sondern arbeitsteilig, hoch technisiert und für beliebige Zwecke. Die Zahl der davon betroffenen Einzeltiere und Tierarten nimmt entsprechend den gesteigerten Verwendungs- und Vermarktungsmöglichkeiten ständig zu. Hinzu kommt die Bekämpfung all jener Tiere, die der Mensch als Nahrungskonkurrenten oder Schädlinge ansieht. Neben dieser unmittelbaren Schädigung nimmt das Leiden der Tiere auch noch durch mittelbar wirkende Eingriffe des Menschen zu, wie Umweltverschmutzung und -vergiftung, Rationalisierung der Land-, Forst- und Wasserwirtschaft sowie eine Verdrängung aus bisher verbliebenen Lebensräumen.

(2) Der wichtigste Unterschied besteht jedoch darin, daß nur der Mensch sich dessen bewußt ist, was er seinen Mitgeschöpfen an Schmerzen und Leiden zufügt, während das Tier in allem, was es tut, auch dem schrecklichsten, ohne Schuld bleibt. Nur der Mensch kann schuldhaft handeln, nur von ihm ist Rücksichtnahme auf die Mitgeschöpfe zu verlangen. Auch das gehört zur —> Sonderstellung des Menschen, die man nur als Ganzes, d. h. einschließlich der damit verbunde- nen Pflichten (—> Pflichtenkonzept), verstehen kann.

IV. Es besteht kein Zweifel, daß die Zufügung von Schmerzen und Leiden unterschiedlich schwer sein und unterschiedlich lange andauern kann, und zwar von gelegentlicher Unbequemlichkeit beim Transport oder einer Blutentnahme bis hin zum schweren Versuch ohne Betäubung oder zu lebenslanger Qual bei Nutztieren in artwidriger Intensivhaltung.

Aber auch die zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe und Zwecke können variieren, und zwar
– vom bloßen Freizeitvergnügen mancher Hobby-Angler
– über die quälerische Erzeugung von Luxusprodukten im Delikatessen- oder Modebereich
– sowie die landwirtschaftliche „Tierproduktion”, die aus wirtschaftlichen Gründen die Tiere bis an die Rentabilitätsgrenze (also bis zu dem Punkt, wo die Dauermißhandlung in gewinnübersteigende Schäden und Verluste umschlägt) ausbeutet
– bis hin zu Fällen, wo mit der Belastung eines oder mehrerer Tiere das Leben oder Wohlbefinden vieler Mitgeschöpfe (einschließlich Mitmenschen) erhalten werden kann. (Daß Eingriffe im Interesse der Tiere selbst zulässig sind, muß hier nicht eigens erwähnt werden.)

Es ist also klar, daß (unbeschadet aller anderen Fragen) für die Güterabwägung ein wichtiger Zusammenhang zwischen der Schwere und Dauer der Belastung und dem Gewicht der vorgebrachten Gründe besteht. Eine weithin akzeptierte Abwägungsrichtlinie, die auch der Tendenz des -> vernünftigen Grundes entspricht, findet sich unter dem Stichwort -> Güterabwägung IV.

V. Das W. als ausschließliches Prinzip des Tierschutzes ist als unzureichend erkannt worden, als man feststellte, daß es die Tiertötung völlig außer acht ließ, gleichgültig ob sie aus einsehbaren Gründen oder nur aus Langeweile erfolgte, entscheidend war nur, daß sie schmerz- und angstfrei durchgeführt wurde. Dagegen sträubte sich aber schon bald das -> Wertgefühl, das die Mitgeschöpfe nicht nur vor -> Schmerzen, -> Leiden oder –> Schäden, sondern auch vor einem vorzeitigen Tod bewahren will. Und so wurde dann das Prinzip der -> Lebenserhaltung in das Grundkonzept des —> ethischen Tierschutzes einbezogen. Künftighin sollte das Tier also nicht nur vor Schmerzen, Leiden oder Schäden, sondern auch vor willkürlicher Tötung geschützt werden, wie dies im Grundsatzparagraph 1 des deutschen und – weniger deutlich – auch des schweizerischen Tierschutzgesetzes festgelegt ist.

Literatur: Im Text erwähnt.

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